Difference between revisions of "Biographies/Johann Valentin Andreae"

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Anregungen des Calvinismus nahm er dabei ohne Bedenken ebenso auf wie die transkonfessionellen Strömungen des europ. Humanismus u. die gesellschaftskritisch akzentuierten Grübeleien der Mystiker, Häretiker u. Spiritualisten. Die Enge der vom Staatsinteresse beherrschten Amtskirche empfand er als bedrückend. Historisch überfällig erschien ihm eine zweite, eine radikale Reformation: mit durchgreifenden Reformen der Kirche, des Lehr- u. Wissenschaftsbetriebs, des öffentl. u. privaten Lebens. </br> A. gestaltete u. durchlitt die Wissens- u. Frömmigkeitskrise einer Epoche des geistigen Umbruchs. Schon während seines Studiums in Tübingen (1602-1607, Magister 1605), im Kreis befreundeter Hochschullehrer (u. a. Michael Mästlin, David Magirus, Matthias Haffenreffer), vertiefte er sich in Wissensbezirke, die mit dem Berufsbild eines Theologen wenig zu tun hatten. Immer wieder hat sich A. mit dem Reiz u. den Gefahren der wiss. Neugier (»curiositas«), des Prinzips neuzeitlicher Weltaneignung, auseinandergesetzt. Davon handelte eine frühe autobiogr. Schrift (Mora philologica, entstanden 1609, zus. u. a. mit Vale Academiae Tubingensi, entstanden 1607. In: In bene meritos gratitudo. Straßb. 1633) sowie das satirisch-komische Drama Turbo, sive moleste et frustra per cuncta divagans ingenium (ersch. Straßb. 1616. Dt. v. Wilhelm Süß. Tüb. 1907). Hier wie auch in einem verlorenen Jugendwerk beweist A. die Kenntnis der engl. Wanderbühnen. In der Titelfigur verkörpert sich die Suche nach Wahrheit der Erkenntnis u. nach einem glückl. Leben, zgl. aber der Prozess dauernder Desillusionierung. In den Wissenschaften seiner Zeit findet Turbo Trug, Wahn u. Leere, in der ihn umgebenden Gesellschaft Anmaßung u. Heuchelei. Gegen Skepsis u. Resignation steht am Ende nur der Wille zur moral. Integrität des eigenen Lebens in der Nachfolge Christi. Schon hier zeigt sich: Der christozentr. Akzent von A.s Gesamtwerk entsprang bei ihm wie bei vielen Zeitgenossen der Suche nach einem Ausweg aus dem unlösbar scheinenden Konflikt zwischen christlich-moralischer Überzeugung u. säkularer Welterfahrung. Diesen Konflikt umkreist A. später in satirischer Aggression, in utop. Visionen, in erbaul. Bemühungen u. in der konkreten Arbeit an der christl. Reorganisation des prakt. Zusammenlebens. </br> Infolge einer Skandalaffäre – es ging um »Buhlschaften« u. um eine Schmähschrift gegen den württemberg. Kanzler – musste A. 1607 ein begonnenes Theologiestudium abbrechen. Er verdingte sich als Hauslehrer, verkehrte in Kreisen der Handwerker, gewann die Freundschaft von Gelehrten abseits der akadem. Zunft. Reisen öffneten seinen Horizont: an den Oberrhein (u. a. nach Heidelberg u. Straßburg, 1607, 1610), in die Schweiz u. nach Frankreich (u. a. Genf u. Paris, 1610/11), nach Oberösterreich u. Italien (u. a. Padua, Venedig u. Rom, 1612). Schließlich gelang es A. 1613, sein Studium wieder aufzunehmen u. im folgenden Jahr abzuschließen. Als Diakon wirkte er zunächst in Vaihingen/Enz (1614-1620) u. wurde dann zum Superintendenten von Calw ernannt. </br> Die in diesen Jahren verfassten Schriften profilieren ihn als eine herausragende geistige Gestalt des frühneuzeitl. Deutschland. Doch stand A. nicht allein, sondern er war der Repräsentant eines kleinen Zirkels unzufriedener Intellektueller. Zwei Persönlichkeiten v. a. wusste sich A. verpflichtet: dem aus Nürnberg stammenden Pansophen u. Theosophen Tobias Heß u. dem Tübinger Juristen Christoph Besoldus. Heß galt vielen als anrüchig: verbohrt in apokalypt. Berechnungen, ein eifriger Anhänger des Paracelsus u. der hermet. Philosophie, der die akadem. Medizin durch eigenwillige Heilmethoden gegen sich aufbrachte, ein arglos-frommer Mensch, der hartnäckig an einem perpetuum mobile bastelte. A. hat sich seiner wiederholt erinnert u. einen liebevollen Nachruf geschrieben (Tobiae Hessi viri incomparabilis immortalitas. Verf. 1614, ersch. Straßb. 1619). Durch Besoldus fand A. nicht nur Zugang zur Literatur der Romania (Tommaso Campanella, Trajano Boccalini), sondern auch die Bekanntschaft mit den Schriften der Mystiker, Schwärmer u. Dissidenten aller Schattierungen. A. u. Besoldus verband auch eine Vorliebe für die gerade in Tübingen verketzerten Schriften Johann Arndts . A. legte daraus lat. Übersetzungen vor. Hier fanden beide die Mystik eines Tauler wieder, den Spiritualismus eines Valentin Weigel , auch den dt. Neuplatonismus des Paracelsus . Was A. in diesen Jahren las, floss ein in die drei berühmten Rosenkreuzermanifeste. Sie verursachten nicht nur in Deutschland eine literarisch ausgetragene Debatte von unerhörter Breite u. Intensität (etwa 200 Schriften in wenigen Jahren). </br> Am Beginn dieser Debatte stand die Fama fraternitatis, die bereits im Titel das Stichwort einer »Generalreformation der gantzen weiten Welt« ausgab. Seit 1609 zirkulierte das Werk in eingeweihten Kreisen als Handschrift; ein anonymer Herausgeber brachte es 1614 zum Druck (Allgemeine und General Reformation der gantzen weiten Welt. Neben der Fama fraternitatis, deß löblichen Ordens des Rosenkreutzes, an alle Gelehrte und Häupter Europae geschrieben. Kassel 1614 u. ö. Engl. 1652. Neudr. in: Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis, Chymische Hochzeit. Hg. Richard van Dülmen. Stgt. 1973). An die Gelehrten Europas erging hier der Appell, in die Fußstapfen einer mythisch-fiktiven Gestalt zu treten. Der Leser begegnet der Legende des Christian Rosenkreuz, dessen Namen auf A.s Familienwappen anspielte. Vor über 120 Jahren habe er gelebt, im Orient das Wissen um die Geheimnisse des Mikro- u. Makrokosmos gesammelt, allerdings nur an wenige Auserwählte weitergegeben. In der nun anbrechenden Endzeit aber, einer Epoche millenarischer Erfüllung, sollen »Falschheit, Lüge und Finsternis« weichen. Der Mensch schickt sich an, in »Wahrheit und Licht« das im Paradies verlorene Wissen zurückzugewinnen. Gott in der Welt, die Welt in Gott zu finden, dieses theosoph. Streben soll dem Nächsten dienen. Das aufhorchende Publikum wurde alsbald weiter in solche Gedankengänge hineingezogen, zunächst durch die Confessio Fraternitatis (enthalten in einem Neudr. der Fama. Kassel 1615), dann durch die Chemische Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1459 (Straßb. 1616). Nur zu diesem Werk hat sich A. ausdrücklich bekannt, einem hintergründigen Märchen, das in esoterisch verrätselten Chiffren die Prüfungen u. die Einweihung des wahren Christen behandelte. Doch auch an den anderen Rosenkreuzerschriften hatte A. zumindest maßgebl. Anteil, mögen auch Einzelfragen der Urheberschaft nach wie vor strittig bleiben. </br> Viel spricht dafür, dass sich A. von den schwärmer. Seiten der Rosenkreuzerutopie bald innerlich distanzierte. Gegen das publizist. Getöse der Weltverbesserer u. Fantasten ließ er jedenfalls alsbald eine ernüchternde Gegenschrift erscheinen (Turris Babel sive Judiciorum de Fraternitate Rosaceae Crucis Chaos. Straßb. 1619). Doch die ursprüngl. Motive der rosenkreuzerischen »Generalreformation« behielten für A. weiterhin Gültigkeit. Man findet sie zunächst im Menippus, einer anonym u. unter Umgehung der Zensur gedruckten satir. Schrift in Dialogform (Menippus sive dialogorum satyricorum centuria inanitatum nostratium speculum. Cum quibusdam aliis liberioribus. Straßb. 1617 u. ö.). Nie hat sich A. weiter vorgewagt als in dieser schneidenden Abrechnung mit den Missständen in Kirche, Schule u. Staat. Was er hier vortrug, musste konservative Kräfte gegen ihn aufbringen: Das gelehrte Treiben habe nichts mit Christentum zu tun; die Naturwissenschaften seien kein Hexenwerk, vielmehr ein Bemühen um die Entzifferung des gottgeschaffenen »liber naturae«. Unchristlich sei die Verfolgung der Hexen; statt der kleinen Kriminellen solle man die wirklich Schuldigen bestrafen. Statt der Streittheologie gebühre dem Christen Toleranz; viele würden künstlich zu Ketzern gemacht. Die Wiedertäufer seien die »boni«, die nicht zu Wort kommen, u. bei den Waldensern finde man die Einheit von Wort u. Leben. Gerade diese unzensierte Schrift zeigt A.s eigentl. Position in der Vermittlung heterodoxer Reformbewegungen des 16. u. des 17. Jh. </br> Der Satire gesellte sich als Komplement die Utopie, A.s nicht ohne Kenntnis Campanellas geschriebene Christianopolis: eine Welt für sich, eine geometrisch angeordnete Gottesstadt, fleischgewordenes himml. Jerusalem (Reipublicae Christianopolitanae Descriptio. Straßb. 1619. Dt. Esslingen 1741. Lat. u. dt. Neudr. Hg. R. van Dülmen. Stgt. 1975. Dt. Übers. v. Wolfgang Biesterfeld. Stgt. 1975). Es ist die erträumte Heimat des Menschen; ohne sie muss er als Fremdling in der Welt herumirren (so u. a. geschildert in Peregrini in Patria Errores. Straßb. 1618). A.s Gottesstadt verwirklicht ein Christentum der Tat, v. a. aber sind in ihr die Laboratorien der Gelehrten u. die Werkstätten der Handwerker zu einer Art wohl geordneter Manufaktur vereinigt. In literarischer Vision ließ sich zur Deckung bringen, was im Leben A.s allenfalls in kleinen Schritten angestrebt werden konnte. Aus den utop. Plänen entwickelte sich das Verlangen nach einer christl. »Sozietät«, zu dem A. die Brüder im Glauben aufrief (Invitatio fraternitatis Christi ad sacri amoris candidatos. Straßb. 1617 u. ö.). Aus der Reform des Wissenschaftsbetriebs speiste sich das pädagog. Anliegen des Theophilus (entstanden 1622, ersch. u. d. T. Theophilus, sive de christiana religione sanctius colenda, vita temperantius instituenda, et literatura rationabilius docenda consilium. Stgt. 1649. Dt. u. lat. Hg. R. van Dülmen. Stgt. 1972). Amos Comenius, ein großer Verehrer A.s, hatte davon eine Abschrift genommen. </br> A.s Arbeit in Calw war überschattet von Kriegsnöten u. mancherlei Auseinandersetzungen. Auch als Inhaber eines geistl. Amtes ließ A. nicht davon ab, die Ärgernisse des Staatskirchentums beim Namen zu nennen (Apap proditus. In: Opuscula de Restitutione Reipublicae Christianae in Germania. Nürnb. 1633). Mit der inneren u. äußeren Reorganisation der Landeskirche beschäftigten sich kirchenrechtl. u. geistl. Schriften, ohne dass A. sich auf die gängigen Publikationsmedien seiner Amtskollegen (Predigtreihen u. dergleichen) eingelassen hätte. Statt dessen entwarf er die Konstitution der bis in die Moderne bestehenden wohltätigen »Färberstiftung« zu Calw (1621). Engen Kontakt hielt er mit ähnlich gesonnenen Vertretern der Reformorthodoxie (z.B. Johann Saubert in Nürnberg), fand gerade im Alter immer stärkeren Rückhalt auch in der sich anbahnenden Freundschaft mit Herzog August von Braunschweig-Lüneburg (ausgew. Briefw. u. d. T. Seleniana Augustalia. Ulm 1649). Der Herzog sorgte dafür, dass A. 1646 mit dem Beinamen »Der Mürbe« in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen wurde. </br> Ehrungen u. Rufe blieben nicht aus: Seit 1639 amtierte A. als Hofprediger u. Konsistorialrat in Stuttgart, trug schließlich auch den Titel eines Abts u. Prälaten von Bebenhausen (1650) u. Adelsberg (1654). In stetiger Erinnerung blieb das uneingelöste Vermächtnis des von ihm mitgetragenen intellektuellen Aufbruchs. Thomasius gedachte des Menippus u. Herder veröffentlichte noch im 18. Jh. u. a. Auszüge aus den parabol. Geschichten der Mythologiae Christianae libri III (Straßb. 1619). Herder sah in A. den Menschenfreund u. einen Vorläufer der Aufklärung, der sich in der »Verbesserung der Welt« verzehrt habe u. an ihr verzweifelt sei. Das lässt sich nur von wenigen Autoren des 17. Jh. behaupten.
| Killy=1$Wilhelm Kühlmann$Durch Herkunft u. Heirat gehörte A. zu den angesehensten Familien der württemberg. Intelligenz. Sein Vater, der Pfarrer u. Superintendent Johann Andreae, widmete sich auch den mechan. Künsten u. tüftelte an alchem. Projekten. A.s lebenslanges Grundanliegen, die harmon. Versöhnung eines prakt. Christentums mit den Herausforderungen der Naturerkenntnis, wurde davon wahrscheinlich beeinflusst. Schwieriger gestaltete sich das innere Verhältnis zum geistigen Erbe des Großvaters. Jacob Andreae , der Urheber der luth. Konkordienformel, war eine Leitgestalt der sich in kontroverstheolog. Kämpfe verbeißenden Orthodoxie. Von deren Vertretern wurde A. gerade in Tübingen immer wieder mangelnder Rechtgläubigkeit verdächtigt. Dies nicht ohne Grund, denn A. interessierte sich kaum für die dogmat. u. exeget. Frontstellungen. Ihm ging es um eine neue Synthese zwischen christlicher Lebensführung, gesellschaftl. Reform u. wiss. Weltoffenheit. Anregungen des Calvinismus nahm er dabei ohne Bedenken ebenso auf wie die transkonfessionellen Strömungen des europ. Humanismus u. die gesellschaftskritisch akzentuierten Grübeleien der Mystiker, Häretiker u. Spiritualisten. Die Enge der vom Staatsinteresse beherrschten Amtskirche empfand er als bedrückend. Historisch überfällig erschien ihm eine zweite, eine radikale Reformation: mit durchgreifenden Reformen der Kirche, des Lehr- u. Wissenschaftsbetriebs, des öffentl. u. privaten Lebens. </br> A. gestaltete u. durchlitt die Wissens- u. Frömmigkeitskrise einer Epoche des geistigen Umbruchs. Schon während seines Studiums in Tübingen (1602-1607, Magister 1605), im Kreis befreundeter Hochschullehrer (u. a. Michael Mästlin, David Magirus, Matthias Haffenreffer), vertiefte er sich in Wissensbezirke, die mit dem Berufsbild eines Theologen wenig zu tun hatten. Immer wieder hat sich A. mit dem Reiz u. den Gefahren der wiss. Neugier (»curiositas«), des Prinzips neuzeitlicher Weltaneignung, auseinandergesetzt. Davon handelte eine frühe autobiogr. Schrift (Mora philologica, entstanden 1609, zus. u. a. mit Vale Academiae Tubingensi, entstanden 1607. In: In bene meritos gratitudo. Straßb. 1633) sowie das satirisch-komische Drama Turbo, sive moleste et frustra per cuncta divagans ingenium (ersch. Straßb. 1616. Dt. v. Wilhelm Süß. Tüb. 1907). Hier wie auch in einem verlorenen Jugendwerk beweist A. die Kenntnis der engl. Wanderbühnen. In der Titelfigur verkörpert sich die Suche nach Wahrheit der Erkenntnis u. nach einem glückl. Leben, zgl. aber der Prozess dauernder Desillusionierung. In den Wissenschaften seiner Zeit findet Turbo Trug, Wahn u. Leere, in der ihn umgebenden Gesellschaft Anmaßung u. Heuchelei. Gegen Skepsis u. Resignation steht am Ende nur der Wille zur moral. Integrität des eigenen Lebens in der Nachfolge Christi. Schon hier zeigt sich: Der christozentr. Akzent von A.s Gesamtwerk entsprang bei ihm wie bei vielen Zeitgenossen der Suche nach einem Ausweg aus dem unlösbar scheinenden Konflikt zwischen christlich-moralischer Überzeugung u. säkularer Welterfahrung. Diesen Konflikt umkreist A. später in satirischer Aggression, in utop. Visionen, in erbaul. Bemühungen u. in der konkreten Arbeit an der christl. Reorganisation des prakt. Zusammenlebens. </br> Infolge einer Skandalaffäre – es ging um »Buhlschaften« u. um eine Schmähschrift gegen den württemberg. Kanzler – musste A. 1607 ein begonnenes Theologiestudium abbrechen. Er verdingte sich als Hauslehrer, verkehrte in Kreisen der Handwerker, gewann die Freundschaft von Gelehrten abseits der akadem. Zunft. Reisen öffneten seinen Horizont: an den Oberrhein (u. a. nach Heidelberg u. Straßburg, 1607, 1610), in die Schweiz u. nach Frankreich (u. a. Genf u. Paris, 1610/11), nach Oberösterreich u. Italien (u. a. Padua, Venedig u. Rom, 1612). Schließlich gelang es A. 1613, sein Studium wieder aufzunehmen u. im folgenden Jahr abzuschließen. Als Diakon wirkte er zunächst in Vaihingen/Enz (1614-1620) u. wurde dann zum Superintendenten von Calw ernannt. </br> Die in diesen Jahren verfassten Schriften profilieren ihn als eine herausragende geistige Gestalt des frühneuzeitl. Deutschland. Doch stand A. nicht allein, sondern er war der Repräsentant eines kleinen Zirkels unzufriedener Intellektueller. Zwei Persönlichkeiten v. a. wusste sich A. verpflichtet: dem aus Nürnberg stammenden Pansophen u. Theosophen Tobias Heß u. dem Tübinger Juristen Christoph Besoldus. Heß galt vielen als anrüchig: verbohrt in apokalypt. Berechnungen, ein eifriger Anhänger des Paracelsus u. der hermet. Philosophie, der die akadem. Medizin durch eigenwillige Heilmethoden gegen sich aufbrachte, ein arglos-frommer Mensch, der hartnäckig an einem perpetuum mobile bastelte. A. hat sich seiner wiederholt erinnert u. einen liebevollen Nachruf geschrieben (Tobiae Hessi viri incomparabilis immortalitas. Verf. 1614, ersch. Straßb. 1619). Durch Besoldus fand A. nicht nur Zugang zur Literatur der Romania (Tommaso Campanella, Trajano Boccalini), sondern auch die Bekanntschaft mit den Schriften der Mystiker, Schwärmer u. Dissidenten aller Schattierungen. A. u. Besoldus verband auch eine Vorliebe für die gerade in Tübingen verketzerten Schriften Johann Arndts . A. legte daraus lat. Übersetzungen vor. Hier fanden beide die Mystik eines Tauler wieder, den Spiritualismus eines Valentin Weigel , auch den dt. Neuplatonismus des Paracelsus . Was A. in diesen Jahren las, floss ein in die drei berühmten Rosenkreuzermanifeste. Sie verursachten nicht nur in Deutschland eine literarisch ausgetragene Debatte von unerhörter Breite u. Intensität (etwa 200 Schriften in wenigen Jahren). </br> Am Beginn dieser Debatte stand die Fama fraternitatis, die bereits im Titel das Stichwort einer »Generalreformation der gantzen weiten Welt« ausgab. Seit 1609 zirkulierte das Werk in eingeweihten Kreisen als Handschrift; ein anonymer Herausgeber brachte es 1614 zum Druck (Allgemeine und General Reformation der gantzen weiten Welt. Neben der Fama fraternitatis, deß löblichen Ordens des Rosenkreutzes, an alle Gelehrte und Häupter Europae geschrieben. Kassel 1614 u. ö. Engl. 1652. Neudr. in: Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis, Chymische Hochzeit. Hg. Richard van Dülmen. Stgt. 1973). An die Gelehrten Europas erging hier der Appell, in die Fußstapfen einer mythisch-fiktiven Gestalt zu treten. Der Leser begegnet der Legende des Christian Rosenkreuz, dessen Namen auf A.s Familienwappen anspielte. Vor über 120 Jahren habe er gelebt, im Orient das Wissen um die Geheimnisse des Mikro- u. Makrokosmos gesammelt, allerdings nur an wenige Auserwählte weitergegeben. In der nun anbrechenden Endzeit aber, einer Epoche millenarischer Erfüllung, sollen »Falschheit, Lüge und Finsternis« weichen. Der Mensch schickt sich an, in »Wahrheit und Licht« das im Paradies verlorene Wissen zurückzugewinnen. Gott in der Welt, die Welt in Gott zu finden, dieses theosoph. Streben soll dem Nächsten dienen. Das aufhorchende Publikum wurde alsbald weiter in solche Gedankengänge hineingezogen, zunächst durch die Confessio Fraternitatis (enthalten in einem Neudr. der Fama. Kassel 1615), dann durch die Chemische Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1459 (Straßb. 1616). Nur zu diesem Werk hat sich A. ausdrücklich bekannt, einem hintergründigen Märchen, das in esoterisch verrätselten Chiffren die Prüfungen u. die Einweihung des wahren Christen behandelte. Doch auch an den anderen Rosenkreuzerschriften hatte A. zumindest maßgebl. Anteil, mögen auch Einzelfragen der Urheberschaft nach wie vor strittig bleiben. </br> Viel spricht dafür, dass sich A. von den schwärmer. Seiten der Rosenkreuzerutopie bald innerlich distanzierte. Gegen das publizist. Getöse der Weltverbesserer u. Fantasten ließ er jedenfalls alsbald eine ernüchternde Gegenschrift erscheinen (Turris Babel sive Judiciorum de Fraternitate Rosaceae Crucis Chaos. Straßb. 1619). Doch die ursprüngl. Motive der rosenkreuzerischen »Generalreformation« behielten für A. weiterhin Gültigkeit. Man findet sie zunächst im Menippus, einer anonym u. unter Umgehung der Zensur gedruckten satir. Schrift in Dialogform (Menippus sive dialogorum satyricorum centuria inanitatum nostratium speculum. Cum quibusdam aliis liberioribus. Straßb. 1617 u. ö.). Nie hat sich A. weiter vorgewagt als in dieser schneidenden Abrechnung mit den Missständen in Kirche, Schule u. Staat. Was er hier vortrug, musste konservative Kräfte gegen ihn aufbringen: Das gelehrte Treiben habe nichts mit Christentum zu tun; die Naturwissenschaften seien kein Hexenwerk, vielmehr ein Bemühen um die Entzifferung des gottgeschaffenen »liber naturae«. Unchristlich sei die Verfolgung der Hexen; statt der kleinen Kriminellen solle man die wirklich Schuldigen bestrafen. Statt der Streittheologie gebühre dem Christen Toleranz; viele würden künstlich zu Ketzern gemacht. Die Wiedertäufer seien die »boni«, die nicht zu Wort kommen, u. bei den Waldensern finde man die Einheit von Wort u. Leben. Gerade diese unzensierte Schrift zeigt A.s eigentl. Position in der Vermittlung heterodoxer Reformbewegungen des 16. u. des 17. Jh. </br> Der Satire gesellte sich als Komplement die Utopie, A.s nicht ohne Kenntnis Campanellas geschriebene Christianopolis: eine Welt für sich, eine geometrisch angeordnete Gottesstadt, fleischgewordenes himml. Jerusalem (Reipublicae Christianopolitanae Descriptio. Straßb. 1619. Dt. Esslingen 1741. Lat. u. dt. Neudr. Hg. R. van Dülmen. Stgt. 1975. Dt. Übers. v. Wolfgang Biesterfeld. Stgt. 1975). Es ist die erträumte Heimat des Menschen; ohne sie muss er als Fremdling in der Welt herumirren (so u. a. geschildert in Peregrini in Patria Errores. Straßb. 1618). A.s Gottesstadt verwirklicht ein Christentum der Tat, v. a. aber sind in ihr die Laboratorien der Gelehrten u. die Werkstätten der Handwerker zu einer Art wohl geordneter Manufaktur vereinigt. In literarischer Vision ließ sich zur Deckung bringen, was im Leben A.s allenfalls in kleinen Schritten angestrebt werden konnte. Aus den utop. Plänen entwickelte sich das Verlangen nach einer christl. »Sozietät«, zu dem A. die Brüder im Glauben aufrief (Invitatio fraternitatis Christi ad sacri amoris candidatos. Straßb. 1617 u. ö.). Aus der Reform des Wissenschaftsbetriebs speiste sich das pädagog. Anliegen des Theophilus (entstanden 1622, ersch. u. d. T. Theophilus, sive de christiana religione sanctius colenda, vita temperantius instituenda, et literatura rationabilius docenda consilium. Stgt. 1649. Dt. u. lat. Hg. R. van Dülmen. Stgt. 1972). Amos Comenius, ein großer Verehrer A.s, hatte davon eine Abschrift genommen. </br> A.s Arbeit in Calw war überschattet von Kriegsnöten u. mancherlei Auseinandersetzungen. Auch als Inhaber eines geistl. Amtes ließ A. nicht davon ab, die Ärgernisse des Staatskirchentums beim Namen zu nennen (Apap proditus. In: Opuscula de Restitutione Reipublicae Christianae in Germania. Nürnb. 1633). Mit der inneren u. äußeren Reorganisation der Landeskirche beschäftigten sich kirchenrechtl. u. geistl. Schriften, ohne dass A. sich auf die gängigen Publikationsmedien seiner Amtskollegen (Predigtreihen u. dergleichen) eingelassen hätte. Statt dessen entwarf er die Konstitution der bis in die Moderne bestehenden wohltätigen »Färberstiftung« zu Calw (1621). Engen Kontakt hielt er mit ähnlich gesonnenen Vertretern der Reformorthodoxie (z.B. Johann Saubert in Nürnberg), fand gerade im Alter immer stärkeren Rückhalt auch in der sich anbahnenden Freundschaft mit Herzog August von Braunschweig-Lüneburg (ausgew. Briefw. u. d. T. Seleniana Augustalia. Ulm 1649). Der Herzog sorgte dafür, dass A. 1646 mit dem Beinamen »Der Mürbe« in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen wurde. </br> Ehrungen u. Rufe blieben nicht aus: Seit 1639 amtierte A. als Hofprediger u. Konsistorialrat in Stuttgart, trug schließlich auch den Titel eines Abts u. Prälaten von Bebenhausen (1650) u. Adelsberg (1654). In stetiger Erinnerung blieb das uneingelöste Vermächtnis des von ihm mitgetragenen intellektuellen Aufbruchs. Thomasius gedachte des Menippus u. Herder veröffentlichte noch im 18. Jh. u. a. Auszüge aus den parabol. Geschichten der Mythologiae Christianae libri III (Straßb. 1619). Herder sah in A. den Menschenfreund u. einen Vorläufer der Aufklärung, der sich in der »Verbesserung der Welt« verzehrt habe u. an ihr verzweifelt sei. Das lässt sich nur von wenigen Autoren des 17. Jh. behaupten.
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=== Portraits ===
=== Portraits ===
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Latest revision as of 12:43, 30 April 2024



Johann Valentin Andreae

Theologian

born 17 August 1586 in Herrenberg
died 27 June 1654 in Stuttgart



Education and Professional activity

University education

Professional activity

Writings

Publications:

Manuscripts:

Letters:

Online Sources

Wikipedia

Dictionaries

Portraits

Printed Sources

Dictionaries

  • Hans Aarsleff, Johann Valentin Andreae. In: Dictionary of Scientific Biography. Hrsg. von Charles Coulston Gillispie. Bd. 1. New York 1970, S. 158–160
  • Neue Deutsche Biographie, 1, 1953, 277-278

Main Sources

Pre-1800

Other

  • Martin Brecht, Johann Valentin Andreae 1586–1654. Eine Biographie, Göttingen 2008
  • Richard van Dülmen, Histoire des années de jeunesse de Joh. Valentin Andreae, in: Revue de l´Histoire des Religions 184/2 (1973), 114–135
  • Roland Edighoffer, Johann Valentin Andreae. Vom Rosenkreuz zur Pantopie, in: Daphnis 10/2-3 (1981), 211–239
  • Roland Edighoffer, Les Rose-Croix et Paracelse, in: Paracelse et les siens (Aries 19), Paris 1995, 67–80
  • Roland Edighoffer, L’énigme paracelsienne dans les Noces chymiques de Christian Rosenkreuz, in: Paracelsus und seine internationale Rezeption in der frühen Neuzeit (Brill´s Studies in Intellectual History 86), ed. Heinz Schott and Ilana Zinguer, Leiden 1998, 238–260
  • Miloslav Ransdorf, Johann Valentin Andreae (prehled historiografie a profil jeho myslení a díla), in: Erasmus Rotterdamský, Johann Valentin Andreare a Jan Amos Komenský. Soudobé mírové a sociálně nápravné snažení a jeho aktuálnost (Studia Comeniana et Historica 35), Uherský Brod 1988, 17–29

Portraits