Meyer 1895 Geschichte

From Theatrum Paracelsicum
Ernst von Meyer,,
Geschichte der Chemie
1895
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Allgemeine Geschichte der iatrochemischen Zeit, insbesondere ihrer theoretischen Ansichten. 1

Die Hauptströmungen der iatrochemischen Zeit gingen von folgenden Männern aus, deren Einfluß sich durch Schulen von größerer oder geringerer Bedeutung weiter verbreitete: Paracelsus, van Helmont und de le Boë Sylvius, dem sich sein bedeutendster Schüler Tachenius anreiht. Neben diesen haben einige Männer selbständig gewirkt oder wenigstens sich nicht völlig der Autorität der eben Genannten untergeordnet; es seien Libavius, Glauber, Sala genannt. In ganz anderer Richtung bethätigten sich Männer wie Agricola, Palissy u. a., welche der technischen Chemie ihre volle Aufmerksamkeit zugewandt haben.

Paracelsus und seine Schule. 2 — Der Mann, welcher in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts der Medezin und der Chemie durch Vereinigung beider neue Wege gewiesen hat, ist Paracelsus gewesen. Ihm kommt das unbestreitbare Verdienst zu, durch klare Bezeichnung wissenschaftlicher Ziele die der Entwickelung der Chemie hinderlichen Fesseln der Alchemie gelockert zu haben. „Der wahre Zweck der Chemie“ — so lehrte derselbe — „ist nicht Gold zu machen, sondern Arzneien zu bereiten.“ Vor ihm waren zwar chemische Heilmittel hin und wieder angewandt worden; insbesondere Basilius Valentinus hatte solche vorgeschlagen, aber Paracelsus unterschied sich von diesem Vorgänger durch die theoretischen Beweggründe, welche ihn zum Gebrauch der chemischen Arzneien führten. Er sah in dem gesunden menschlichen Körper eine Vereinigung gewisser chemischer Stoffe; erfahren diese irgend welche Änderungen, so entstehen Krankheiten, welche demnach nur durch chemische Heilmittel gehoben werden können. Diese Sätze enthalten die Quintessenz der Lehre von Paracelsus. Mit letzterer waren die Grundsätze der alten Galen’schen Schule unvereinbar, welche überhaupt mit der Chemie nichts anzufangen vermochte.

Gegen die bei allen Ärzten eingenisteten alten Lehren trat Paracelsus mit großer Kühnheit und einer erstaunlich rücksichts-


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1 Vergl. Kopp, Gesch. d. Chemie I, 84 ff.
2 Die neuen litterarischen Forschungen über Paracelsus insbesondere Fr. Mook: Theophrastus Paracelsus (Würzburg 1876); E. Schubert u. K. Sudhoff: Paracelsus-Forschungen (Frankfurt 1887, 1889); Aberle: Grabdenkmal, Schädel und Abbildungen des Theophrastus Paracelsus etc. (Salzburg 1891) haben wertvolle Aufschlüsse über das Leben und Wirken des merkwürdigen übergenialen Mannes gebracht; diese Schriften tragen zur Würdigung seiner wahren Verdienste nicht unwesentlich bei.
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losen Energie in die Schranken. So entschieden man seine Übertreibung auf diesem Gebiete verurteilen muß, so hat er doch durch sein Vorgehen der zunehmenden Versumpfung der Heilkunde wirksam vorgebeugt und wohlthätige Neuerungen teils durchgesetzt, teils angeregt.

Sein Lebenslauf war nicht geeignet, sein Ansehen bei den Gegnern, also fast allen Ärzten jener Zeit, zu steigern. Paracelsus (sein vollständiger Name lautet: Philippus Aureolus Paracelsus Theophrastus Bombastus) zu Einsiedeln 1 in der Schweiz 1493 geboren, kam nach einem überaus unstäten Leben und den abenteuerlichsten Fahrten durch aller Herren Länder als ein durch seine Wunderkuren berühmter Arzt in sein Vaterland zurück (um 1525). Die Professur für Heilkunde in Basel wurde ihm damals übertragen, und diese Stellung, sowie sein ärztliches Ansehen benutzte Paracelsus, um die iatrochemische Lehre zu verkünden und gegen die alte medizinische Schule mit allen Mitteln der Dialektik anzukämpfen. Die bisher unangefochtene Autorität Galen’s und Avicenna’s zog er in den Staub und wußte sich durch die populären, in deutscher Sprache gehaltenen Vorträge, sowie die urwüchsige Art seines Auftretens einen großen Anhang zu verschaffen. Bald jedoch sah er sich infolge eines Zerwürfnisses mit dem Baseler Magistrat genötigt, die Stadt zu verlassen (1527); nach ruhelosem Umherschweifen im Elsaß, in Bayern, Österreich, der Schweiz kam er zuletzt nach Salzburg, wo er in zerrütteten Verhältnissen starb (1541). Die Angabe, daß Paracelsus dort einen gewaltsamen Tod durch Diener der ihm feindlichen Ärzte gefunden habe, ist als unbegründet nachgewiesen (s. Aberle, a.a.O.).

Die Beurteilung dieses begabten Mannes, dessen Leben in so schroffem Widerspruche mit seiner geistigen Befähigung stand, ist von jeher eine sehr verschiedenartige gewesen. Von seinen Schülern und auch vielen, die seinen Lehren nicht zustimmten, überschätzt, ja verherrlicht, wurde er andererseits von seinen Gegnern und von Chemikern, welche als Geschichtsschreiber ihn beurteilten, herabgesetzt. Das wirklich Gute, das er durch seine Reformbestrebungen angeregt hat, fand selten die verdiente Anerkennung, weil demselben zu viel Charlatanerie und Roheit beigemengt waren; die Selbstüberschätzung,


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1 Der ihm manchmal beigelegte Name: Eremita soll an seine Vaterstadt erinnern.
2 Vgl. A. N. Scherer’s Schrift: Theophrastus Paracelsus (Petersburg 1821). Nüchterner urteilte der Kanzler Bacon, welcher das Bestreben des Paracelsus, durch Erfahrung die Wahrheit zu ergründen, rühmte.
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in der er sich gefiel, trug dazu bei, ihn bei den besonnenen Ärzten lächerlich zu machen.

Seinen iatrochemischen Lehren, welche er auf reiche Erfahrungen zu gründen vermeinte, lag die schon erwähnte Vorstellung zu Grunde, daß die im menschlichen Körper sich abspielenden Prozesse chemische seien, und daß von der Zusammensetzung der Organe und Säfte der Gesundheitszustand abhänge. In Bezug auf die Bestandteile der organischen Körper schloß sich Paracelsus der Annahme des Basilius an, wonach dieselben aus Quecksilber, Schwefel und Salz zusammengesetzt seien. Trotz vieler Widersprüche in Einzelheiten seiner theoretischen Ansichten bildet diese Hypothese die Grundlage 1 seines ganzen Systems. Wenn einer dieser Grundstoffe vorwaltet oder unter sein normales Maß herabgeht, so entstehen Krankheiten. In höchst phantastischer Weise findet sich dieser Gedanke in den Schriften des seltsamen Mannes dargelegt, wie zur Genüge aus folgenden Andeutungen hervorgeht:

Das Überhandnehmen des Schwefels soll Fieber und die Pest, das des Quecksilbers Lähmungen und Schwermut, das Vorwalten des Salzes Durchfälle und Wassersucht hervorrufen. Durch Ausscheidung des Quecksilbers, so meint Paracelsus, entsteht Gicht, durch Destillieren desselben aus einem Organ in andere werden Tobsuchtsanfälle hervorgerufen und so fort. So unbegründet derartige Meinungen sind, so kann man doch einen Sinn damit verbinden. Dagegen werden gänzlich unverständlich seine Äußerungen über die Beziehungen der einzelnen Organe und Sekrete des menschlichen Körpers zu den Metallen resp. den Planeten, denen er einen mystischen Einfluß zuschreibt. Nicht weniger unbegreiflich ist seine Annahme eines Zusammenhanges zwischen der Pest und den Sternschnuppen.

Als Ursache verschiedener Krankheiten bezeichnet Paracelsus den tartarus, worunter Niederschläge aus Säften, welche in gesundem Zustande keine festen Teile enthalten, zu verstehen sind. Die Ablagerung von Konkrementen, welche er bei mancherlei Krankheiten (Gicht, Nieren- und Gallensteine) in den leidenden Organen beobachtet haben mag, werden ihn auf diesen teilweise richtigen Gedanken hingeleitet haben. Der Vergleich solcher Ausscheidungen mit bekannten Sedimenten, namentlich dem Weinstein, führte zur allgemeinen Bezeichnung tartarus; auch sollte vielleicht das Wort


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1 Die Medizin ruht, nach des Paracelsus konfuser Behauptung, auf vier Säulen, deren eine die Chemie ist; die drei anderen sind Philosophie, Astronomie und Tugend.
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doppelsinnig an die Höllenqualen erinnern, welche die mit jenen Krankheiten Behafteten auszustehen hatten.

Während Paracelsus in dieser, wenn auch phantastischen, doch zum Teil rationellen Weise pathologische Prozesse des Körpers auf chemische Ursachen zurückzuführen strebte, nahm er seiner iatrochemischen Lehre zum Trotz bei einzelnen Vorgängen das Wirken besonderer Kräfte an, welche er sich in seiner drastischen Art personifiziert dachte. Namentlich die Verdauung sollte durch die dem Willen des Menschen sich entziehende Thätigkeit des Archeus geregelt werden, der als guter Geist die eingenommene Nahrung verdaulich macht, die Ausscheidung unverdaulicher Stoffe bewirkt und so für die Erhaltung des richtigen Gleichgewichts sorgt. Erkrankungen des Magens entstehen durch Krankwerden und Siechtum des Archeus. Bei der Deutung eines so spezifisch chemischen Prozesses, wie die Verdauung ist, wurde Paracelsus seinen Prinzipien untreu. Erst die späteren Iatrochemiker haben diese Inkonsequenz aus ihrem Lehrsystem ausgemerzt. drawit

Gegen die Krankheiten werden die Heilmittel (arcana) gerichtet, deren Darstellung nach Paracelsus, wie schon erwähnt, Zweck der Chemie ist. Hier muß anerkannt werden, daß durch diesen Grundsatz neues Leben in die verrottete Arzneimittellehre kam; eine Fülle wichtiger Präparate wurde von Paracelsus der Medizin zugeführt. Die Art, wie er dieselben angewandt hat, entzieht sich meist der Kenntnis; aber festgestellt ist doch, daß er zahlreiche glückliche Kuren an Schwerkranken ausgeführt hat. Genaueres weiß man über die Präparate, welche Paracelsus anwandte: Die als Gifte gefürchteten Metallverbindungen, wie Kupfervitriol, Sublimat, Bleizucker, verschiedene Antimonverbindungen, wurden von ihm zu Heilmitteln gestempelt. Ferner brachte er verdünnte Schwefelsäure, mit Weingeist „versüßtes Vitriolöl“ (das spätere Haller’sche Sauer), Eisentinkturen, Eisensaffran zur Anwendung, wie er auch die bessere Gewinnung und Benutzung verschiedener Essenzen und Extrakte kennen lehrte. Die größten Erfolge soll er durch zweckmäßige Verordnung von Laudanum erzielt haben.

Daß Paracelsus durch so umfassende Erweiterung des Arzneischatzes einen mächtigen Anstoß zur höheren Entwickelung des Apothekerwesens gab, liegt auf der Hand; denn bis auf seine Zeit waren die Apotheken nichts anderes, als Niederlagen von Wurzeln, Kräutern, Sirupen, sowie allerhand Konfekt, dessen ausschließliche Bereitung ihnen zustand. Die Herstellung der neuen Arzneimittel setzte Bekanntschaft mit chemischen Thatsachen und Vorgängen voraus; die Pharmazeuten mußten also sich fortan bemühen, diese Kenntnisse

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zu erwerben, und damit nahm die Pharmazie im eigentlichen Sinne ihren Anfang. Wenn demnach Paracelsus die Ärzte und Apotheker veranlaßte, sich mit der Chemie zu befassen, so ist ihm dieses Verdienst hoch anzurechnen; aber man darf nicht so weit gehen wie Scherer 1, welcher meint, „die Pharmazie verdankt Paracelsus alles“.

Stürmische Bewegung unter den Zeitgenossen riefen die gewaltsamen Neuerungen hervor, welche Paracelsus einzuführen strebte. Durch seine zahlreichen, in verschiedenen Sprachen sich verbreitenden Schriften, welche meist aus der Zeit nach seiner Entfernung von Basel herrühren, erhielt diese von ihm veranlaßte Erregung stetig neue Nahrung. Der alten medizinischen Schule gaben dieselben häufig Gelegenheit zu heftigen Entgegnungen. Seine Schriften stehen hinsichtlich der Art der Abfassung auf einer sehr niedrigen Stufe; sie spiegeln das unstäte Leben, das rohe Gebahren des Autors getreu wieder. Aus jeder derselben spricht eine maßlose Selbstüberschätzung, ja viele sind in einer Schreibweise abgefaßt, welche eines Gebildeten unwürdig zu nennen ist. Die chemischen Kenntnisse von Paracelsus und seine Ansichten über die Entstehung der Krankheiten lassen sich am besten aus folgenden Werken erkennen: Archidoxa; De tinctura physicorum; De morbis ex tartaro oriundis; Paramirum; Grosse Wundarznei.

Die Folgen des Auftretens von Paracelsus ließen nicht lange auf sich warten. Seine Schüler, für die neuen Lehren begeistert, verherrlichten ihn als Reformator der Medizin; die Anhänger der alten Schule dagegen wehrten sich verzweifelt gegen die Neuerungen und Angriffe, welche ihr Ansehen untergruben. Ein heftiger Kampf entbrannte und setzte sich lange Zeit hindurch fort, bis derselbe, wenn auch nicht zu Gunsten des Paracelsus, so doch der gemäßigten Iatrochemiker entschieden wurde. Näher auf diese Streitigkeiten einzugehen, liegt nicht im Plane dieser Schrift, da es hier gilt, die Bedeutung der medizinisch-chemischen Ansichten für die Entwickelung der Chemie darzulegen. Nur sei erwähnt, daß der Schweizer Arzt Erastus (sein deutscher Name war Lieber), der Galen’schen Lehre treu, als Vorkämpfer gegen Paracelsus wirkte, und namentlich die argen, in des letzteren Schriften gehäuften Widersprüche aufzudecken verstand. Das ärztliche Lager wurde während des 16. Jahrhunderts durch Streitschriften beider Richtungen aufgeregt. Von den Schülern des Paracelsus, welche, weniger genial als ihr


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1 A. a. O.
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Meister, dessen Ideen paraphrasierten und vorzugsweise seine üblen Eigentümlichkeiten, besonders sein marktschreierisches Wesen nachahmten, ihm aber in wissenschaftlicher Hinsicht nicht gleichkamen, ist Leonhard Thurneisser 1 (genannt zum Thurn) der bekannteste und wohl begabteste gewesen. Für die Chemie hat derselbe nichts Selbstständiges von einiger Bedeutung geleistet. Sein verunglücktes Auftreten als Adept sichert ihm dagegen einen Platz in der Geschichte der Alchemie (vergl. S. 54).

Das wüste Treiben von Männern seines Schlages, die durch rücksichtslose Anwendung von giftigen Präparaten als Arzneien großes Unheil stifteten, läßt es begreiflich erscheinen, daß man ihrem Unwesen durch gesetzliche Mittel zu steuern suchte; dies geschah z. B. durch das Verbot des Pariser Parlamentes, Antimonpräparate zu verordnen, sowie durch das Verdammungsurteil, welches die medizinische Fakultät zu Paris gegen jeden derartigen Neuerungsversuch in der Heilkunde schleuderte.

Zu der Schule des Paracelsus gehörten aber auch Männer, welche, wissenschaftlich hoch stehend, nicht allen Lehren desselben zustimmten, vielmehr kritisch an diese herantraten und in besonnener Weise das Gute daraus auszuwählen suchten. Als Iatrochemiker dieser Art sind am Ende des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts vorzugsweise zu nennen: Turquet de Mayerne und Libavius, sodann Oswald Croll und Adrian van Mynsicht. Dieselben, wenn auch teilweise Zeitgenossen van Helmont’s, bilden den Übergang von Paracelsus zu diesem merkwürdigen Manne. Sie haben nicht nur der Medizin, sondern auch der Chemie Nutzen gebracht.

Turquet de Mayerne, 1573 in Genf geboren, wirkte als angesehener Arzt zu Paris, konnte sich aber, da er die in Verruf gekommenen Antimonpräparate als unentbehrlich bezeichnete und anwendete, unter den dortigen Ärzten nicht halten, so daß er vorzog, nach England als Leibarzt des Königs überzusiedeln, wo er 1655 starb. Seine chemischen Kenntnisse waren für jene Zeit hoch entwickelt; dem entsprechend wirkte er kräftig für die rationelle Anwendung chemischer Heilmittel, ohne in die Übertreibungen des Paracelsus zu verfallen oder andererseits alle Arzneien der Galen’schen Schule zu verwerfen.


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1 Über das Thun und Treiben Thurneisser’s giebt das treffliche Werk Moehsen’s: Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in der Mark Brandenburg etc. (Berlin u. Leipzig 1783) Aufschluß. Vergl. auch die geistvolle Rede A. W. Hofmann’s: „Berliner Alchemisten und Chemiker“ (1882).
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In ähnlicher Weise und zu etwa gleicher Zeit waren die Ärzte Croll und van Mynsicht thätig, welche, im Besitz tüchtiger chemischer Kenntnisse, viele Medikamente des Paracelsus, sowie neue Präparate zu Ehren brachten; zu letzteren gehören das schwefelsaure Kali und das Bernsteinsalz, welche Croll, sowie der Brechweinstein, welchen van Mynsicht zuerst empfahl.

Andreas Libavius (Libau) fesselt durch seine kritische Stellung gegenüber den groben Verirrungen der paracelsischen Schule, namentlich auch durch mancherlei neue Beobachtungen, welche er der Chemie zugeführt hat, in hohem Maße unsere Aufmerksamkeit. Er war in Deutschland der erste namhafte Chemiker, welcher gegen die Ausschreitungen des Paracelsus energisch auftrat und die Mängel seiner Lehren, die Unverständlichkeit seiner Schriften, seine Phantastereien und Sophismen, sowie den Geheimmittelschwindel wirksam bekämpfte. Von Haus aus Arzt hatte Libavius sich tüchtige chemische Kenntnisse erworben und erweiterte diese noch, obwohl er sich mehr der Pflege historischer und sprachwissenschaftlicher Studien hingegeben hatte. Er ist i. J. 1616 als Direktor des Gymnasiums zu Koburg gestorben, nachdem er von 1591 bis 1607 als angesehener Arzt und Leiter der „lateinischen Schule“ zu Rothenburg a/Tauber mit großem Erfolge thätig gewesen war. Dank seinem ärztlichen Wissen und seiner gründlichen allgemeinen Bildung verstand Libavius besser als seine Zeitgenossen den Einfluß, den die Chemie auf die Medizin ausüben sollte, zu würdigen; er nahm dabei eine vermittelnde Stellung ein zwischen Paracelsus und seinen Gegnern, welche die Chemie ganz aus der ärztlichen Wissenschaft verbannt wissen wollten. Trotz seines gesunden Urteils, das er in vielen Fragen bethätigte, konnte er sich doch nicht von der Vorliebe seiner Zeit für die Alchemie völlig frei machen.

Für die Chemie erwarb sich Libavius ein wirkliches Verdienst durch die Abfassung eines Lehrbuches, welches unter dem Titel „Alchymia“ 1595 erschienen ist und die wichtigsten Thatsachen und Lehren, die in Betracht kamen, enthielt. Seine übrigen Schriften, in denen er teils die oben gedachten Mängel der paracelsischen Schule bekämpfte, teils neue chemische Beobachtungen niederlegte, sind kurz vor seinem Tode in drei Bänden erschienen (unter dem Titel Opera omnia medico-chymica). Seiner praktisch-chemischen Kenntnisse, die sich durch Entdeckung wichtiger Thatsachen bekundet haben, ist noch an manchen Stellen weiter unten zu gedenken.

Als bemerkenswert sei hervorgehoben, daß Libavius lebhaft für die Errichtung von chemischen Laboratorien eintrat, in denen wissen-

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schaftliche Arbeiten ausgeführt werden sollten. Aus seinen dahin zielenden Vorschlägen erhellt, daß für die verschiedensten nützlichen, sowie angenehmen Einrichtungen in diesen Arbeitsstätten gesorgt sein sollte. 1

Johann Baptist van Helmont und seine Zeitgenossen.

Als einer der bedeutendsten, selbständig beobachtenden Chemiker seiner Zeit beansprucht van Helmont einen ausgezeichneten Platz und eingehende Besprechung in der Geschichte des iatrochemischen Zeitalters. Mit reichen Kenntnissen und Erfahrungen in der Medizin und Chemie ausgestattet, überragte er seine in beiden Gebieten thätigen Zeitgenossen. Sein Leben war größtenteils das eines in der Stille wirkenden Gelehrten, wennschon seine glänzenden äußeren Verhältnisse — er gehörte einem edlen brabantischen Geschlechte an — damit nicht im Einklange standen. Im Jahre 1577 zu Brüssel geboren, wandte er sich frühreif philosophischen und theologischen Studien zu, denen er jedoch, da sie ihn unbefriedigt ließen, entsagte, um der Heilkunde zu dienen. Zunächst hing er der alten Schule der Galenisten an, erkannte jedoch bald ihre Mängel und wandte sich den Lehren des Paracelsus zu, die er aber nur teilweise annahm. Mit wachsender Begeisterung für seinen ärztlichen Beruf kämpfte er gegen das alte medizinische System und trug durch seine glänzenden Leistungen als Arzt und Iatrochemiker zur Beseitigung desselben wesentlich bei. Ohne van Helmont würde die Iatrochemie nicht zu der Höhe emporgestiegen sein, auf welche sie später durch Sylvius und Tachenius gebracht worden ist. Auch die reine Chemie hat van Helmont durch eine Fülle wichtiger Beobachtungen bereichert. Seine wissenschaftlichen Beschäftigungen waren ihm so lieb geworden, daß er glänzenden Anerbietungen von Fürsten nicht folgte, vielmehr es vorzog, in der Stille seiner Laboratoriums bei Brüssel die Geheimnisse der Natur zu erforschen; er ist daselbst im Jahre 1644 gestorben.

In van Helmont begegneten und vereinigten sich wunderbare Gegensätze. Mit seiner Gabe, scharf und nüchtern zu beobachten, kontrastierte eine mächtige Neigung zum Übernatürlichen, vielleicht Folge seiner mystischen und magischen Studien, denen er neben den theologischen gehuldigt hatte. So konnte derselbe Mann, welcher den Grund zur ersten Kenntnis der Gase legte und damit eine Schärfe der Wahrnehmung bekundete, wie sie kein Beobachter vor ihm besessen hatte, die Umwandelung unedler Metalle in Gold aufs


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1 Über Libavius’ Leben und Wirken vergl. den Vortrag von Ottmann in Verhandlungen der Ges. Deutscher Naturforscher etc. 1894, II. S. 79.
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eifrigste verteidigen (vergl. S. 53); sein Glaube daran war so fest gewurzelt, daß Täuschungen vorkamen, welche uns unbegreiflich sind. Ebenso rätselhaft, ja lächerlich erscheinen bei seiner sonstigen Gabe, das Experiment zu befragen und entscheiden zu lassen, ernsthaft gemeinte Behauptungen, wie z. B. die, daß in einem Gefäße, welches Weizenmehl und ein schmutziges Hemd enthalte, Mäuse erzeugt würden.

Daß van Helmont von phantastischen Vorstellungen auch weniger bedenklicher Art nicht frei war, ist danach verständlich. Seine theoretischen Ansichten über die Elemente und seine iatrochemischen Lehren weisen manches Beispiel dafür auf; aber andererseits wußte er vieles so richtig, so viel besser als seine Vorgänger zu erklären, daß der Nutzen des Guten den üblen Einfluß der Irrtümer weit überwog.

Über die Grundstoffe in den Körpern hatte sich van Helmont eine eigene Ansicht gebildet; weder alle vier aristotelischen 1 noch die von Basilius angenommenen Elemente ließ er gelten, vielmehr betrachtete er das Wasser als Hauptbestandteil aller Stoffe; daß es in den organischen Körpern enthalten sei, schloß er daraus, daß er es als regelmäßiges Produkt ihrer Verbrennung nachwies. Ein Hauptargument dafür glaubte van Helmont durch den Versuch geliefert zu haben, wonach Pflanzen mit reinstem Wasser, das nach seiner Meinung deren alleiniges Nahrungsmittel sein konnte, zu regstem Wachstum gebracht wurden. Daß er demgemäß von der Umwandelung des Wassers in erdige Stoffe überzeugt war, erscheint begreiflich.

Während van Helmont hier dem nämlichen Irrtum huldigte, welcher vor und nach ihm in vielen Köpfen geherrscht hat, erkannte gerade er die Unveränderlichkeit des Stoffes in vielen Fällen schärfer, als alle seine Zeitgenossen; so hat er am meisten zur Beseitigung des Glaubens beigetragen, das aus Kupfervitriol durch Eisen abgeschiedene Kupfer sei neu geschaffen. Ferner lehrte er das Weiterbestehen eines Körpers in vielen seiner Verbindungen, z. B. des Silbers in seinen Salzen, der Kieselerde in dem Wasserglas, welches nach seinen denkwürdigen Beobachtungen durch Zersetzung mit Säuren, die ursprünglich angewandte Kieselsäure in gleicher Menge lieferte. Das waren Ansichten und Beobachtungen von großer Tragweite; denn entgegen den unklaren früheren Vorstellungen über die Bildung chemischer Verbindungen wurde von ihm gelehrt, daß der ursprüngliche Körper, auch wenn er chemischen Umwandelungen unterliegt, in den neuen Produkten erhalten bleibt.


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1 Bezüglich der Luft herrscht Zweifel, ob van Helmont sie als Element betrachtet habe. Dem Feuer sprach er überhaupt stoffliche Natur ab, wodurch er seinen ungewöhnlichen Scharfblick bekundete.
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Er hatte demnach den Grundgedanken von der Erhaltung des Stoffes in einzelnen Fällen klar erfaßt.

van Helmont steht mit diesen Ideen originell da, und gerade der Chemie hat er durch dieselben neue Wege gewiesen. Auch die von ihm eifrig gepflegten Beziehungen zwischen Chemie und Heilkunde führten ihn zu Ansichten, denen eine teilweise Originalität nicht abzusprechen ist, schon deshalb, weil er durch Experimente mit Säften und anderen Ausscheidungen des tierischen Körpers theoretische Fragen zu entscheiden suchte. Ganz besonderen Wert hatte nach ihm die Reaktion der in letzterem vorkommenden Flüssigkeiten; denn diese sollten, je nachdem sie sauer oder neutral waren, die wichtigsten Funktionen des Organismus bedingen. Außer der chemischen Beschaffenheit der Säfte war nach van Helmont Hauptursache der organischen Prozesse die Gärung, über welche er jedoch sich weniger klar äußerte, als über die Bedeutung der chemischen Reaktion; bezüglich der Verdauung und damit zusammenhängender Prozesse konnte er sich von der Annahme, der Archeus beherrsche dieselben, nicht ganz frei machen. Dagegen blieb er mit seinen Erklärungen vitaler Vorgänge auf festerem Boden, sobald er die chemische Beschaffenheit der Säfte berücksichtigte. Die Säure des Magensaftes leitet nach ihm die Verdauung ein; ein Vorwalten jener erzeugt Unbehagen, Krankheiten, die um so bedenklicher werden, je mehr Säure vorhanden ist, welche dann nicht mehr wie bei normalem Zustande durch das Alkali der sich im Duodenum dem Magensafte beimengenden Galle neutralisiert werden kann. Gegen alle so entstehenden Krankheiten müssen nach van Helmont alkalische Mittel (Laugensalze u. s. w.) angewandt werden. Die infolge des entgegengesetzten Übels, des Mangels an Säuren, hervorgerufenen Krankheiten sollen dagegen durch saure Arzneien bekämpft werden. Die letzteren empfahl er auch gegen die Gicht, Steinleiden und ähnliche Übel, deren Entstehung ebenfalls aus der unzureichenden oder unrichtigen Mischung der Säfte abgeleitet wurde. In diesen Ansichten lag in der That ein bedeutender Fortschritt gegenüber denen des Paracelsus; denn dieser nahm willkürliche, nicht darstellbare Bestandteile in den organischen Materien an, van Helmont dagegen suchte die wirksamen Stoffe darin auf und verglich die Wechselwirkung verschiedenartiger Säfte, welche zusammentreffen mit den ähnlichen Reaktionen von Lösungen außerhalb der Organe: ein Verfahren, durch welches der erste, damals freilich noch unsichere Grund zur chemischen Physiologie gelegt wurde.

Als durchaus origineller Forscher, welcher der Chemie neue Wege gebahnt hat, bewährte sich van Helmont durch seine Unter-

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suchungen über die Gase; er ist damit der eigentliche Begründer der pneumatischen Chemie gewesen, die allerdings erst über ein Jahrhundert nach ihm zu gedeihlicher Entwickelung gelangte, aber dann mit ihren Entdeckungen die große Reform der Wissenschaften einleitete. Erwägt man, daß vor Helmont’s Arbeiten die verschiedensten Gase, wie Wasserstoff, Kohlensäure, schweflige Säure, nicht für wesentlich verschieden von der gewöhnlichen Luft angesehen wurden, daß er zuerst die luftförmigen Körper durch Ermittelung ihrer Eigenschaften als verschiedenartige kennzeichnete, so liegt sein großes Verdienst zu Tage. Von ihm ist der Gattungsname „Gas“ 1 für dieselben eingeführt worden, und er unterschied sie von den Dämpfen, insofern letztere durch Abkühlung verfüssigt, erstere dagegen nicht verdichtet würden.

van Helmont lehrte namentlich die Kohlensäure näher kennen, und zwar zeigte er ihre Entstehung aus Kalkstein oder Pottasche mit Säuren, aus brennenden Kohlen, sowie bei der Weinund Biergärung, bewies auch ihr Auftreten im Magen, sowie ihr Vorkommen in Mineralwässern und in manchen Höhlungen der Erde; er nannte dieselbe meist Gas sylvestre. 2 Dem Mangel an Hilfsmitteln, Gase aufzusammeln, ist die Unvollkommenheit mancher seiner Beobachtungen, so die Verwechselung der Kohlensäure mit anderen die Verbrennung ebenfalls nicht unterhaltenden Gasen zuzuschreiben; dagegen hat er einige brennbare Gase, Wasserstoff und Grubengas, als eigentümliche Luftarten beschrieben. Wegen der mit der ersten wissenschaftlichen Untersuchung der Gase verknüpften Bedeutung für die Beurteilung der Leistungen van Helmont’s ist dieser eigentlich in die Zusammenstellung der praktischen Kenntnisse gehörende Gegenstand in der allgemeinen Geschichte dieser Zeit behandelt worden. Die Schriften van Helmont’s wurden von seinem Sohne unter dem Titel: „Ortus medicinae vel opera et opuscula omnia“ 1648 herausgegeben.

van Helmont’s Einfluß auf seine Zeitgenossen und auf die Weiterentwickelung der iatrochemischen Lehren muß sehr hoch angeschlagen werden. Die von ihm angestrebte Einführung chemischer Begriffe in die Heilkunde wirkte klärend, insofern die Anwendung chemischer Arzneien zur Bekämpfung der Krankheiten naturgemäß


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1 Bei der Wahl dieser Bezeichnung hat van Helmont vielleicht an Chaos gedacht oder auch an die Prozesse der Gärung (gären heißt im Holländischen „gisten“).
2 Durch die Bezeichnung sylvestre hat van Helmont wohl die Unmöglichkeit, das Gas zu verdichten, andeuten wollen; wenigstens sagt er einmal: gas sylvestre sive incoërcibile, quod in corpus cogi non potest visibile.
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erschien; zudem hatte er durch sein „Pharmacopolium ac dispensatorium modernum“ gute, zweckmäßige Vorschriften zur Bereitung von Heilmitteln bekannt gemacht. Der wissenschaftliche Geist, den er in die Medizin einzuführen strebte, wirkte im Gegensatze zu dem rohen Empirismus der paracelsischen Schule fördernd auf eine gesundere Entwickelung der Heilkunde.

In ähnlichem Sinne, wenn auch nicht mit gleich hohem Geistesfluge, waren einige andere Ärzte zu jener Zeit thätig, welche, ebenfalls mit chemischen Kenntnissen gut ausgerüstet, an die Ausübung der ärztlichen Kunst herangingen und infolge ihres klaren Blickes manche Übelstände, z. B. die aus der Anwendung von Geheimmitteln hervorgehenden, klar erkannten und bekämpften: Angelus Sala und Daniel Sennert sind hier zu nennen. Sala, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Leibarzt am mecklenburgischen Hofe thätig, überrascht uns durch seine klare Beurteilung sowohl der paracelsischen als der alten ärztlichen Schule, sowie durch seine für jene Zeit ausgedehnten chemischen Kenntnisse. Diese kamen im Verein mit seinen gediegenen medizinischen Erfahrungen vielfach der Pharmazie zu statten, aber auch der reinen Chemie, denn er hatte sich über die Zusammensetzung mancher chemischen Verbindungen, sowie über Reaktionen derselben richtige Vorstellungen gebildet, wie solche vor ihm noch nicht geäußert waren; z. B. sprach er aus, daß der Salmiak aus Salzsäure und flüchtigem Laugensalz besteht, ferner war ihm bekannt, daß durch die Schwefelsäure Salpetersäure aus ihren Salzen ausgetrieben wird u. s. W.

Sennert, als Professor in Wittenberg im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts lebend, richtete seine Thätigkeit vorzugsweise darauf, den Ärzten die treffliche Wirkung chemischer Arzneimittel nachzuweisen, sobald diese richtig angewandt würden. Von manchen irrigen Auffassungen des Paracelsus, z. B. der Lehre von den drei Grundbestandteilen, konnte er sich zwar nicht losmachen, aber gegen die schweren Mißbräuche, die durch den Genannten in die Medizin eingedrungen waren, namentlich gegen die sogen. Universalmittel, trat er erfolgreich auf.

Sylvius und Tachenius. — Franz de le Boë (Dubois) Sylvius, 1614 zu Hanau geboren, lebte nach gründlichen naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien zuerst als angesehener Arzt, später bis zu seinem Tode (1672) als berühmter Professor der Heilkunde zu Leiden. Mit seinen medizinischen Kenntnissen überragte er die meisten seiner Zeitgenossen. Der Unterschied des arte-

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riellen und venösen Blutes war ihm bekannt, und als Ursache der roten Farbe des ersteren betrachtete er die durch das Atmen aufgenommene Luft. Verbrennung und Respiration waren für ihn durchaus ähnliche Vorgänge. Wie in diesem letzteren Falle, so richtete Sylvius überhaupt sein ganzes Bestreben darauf, die im menschlichen Körper sich vollziehenden Prozesse, seien sie normale oder pathologische, als rein chemische zu erfassen. Das spiritualistische Element, welches den Lehren des Paracelsus und van Helmont’s beigemischt war, sollte ganz beseitigt werden. Die Verdauung z. B., deren Erklärung den beiden eben Genannten nur durch Herbeiziehen eines Geistes (Archeus) möglich erschien, betrachtete Sylvius als chemischen Vorgang, bei dem der Speichel in erster Linie, sodann der Magen- und Pankreassaft, sowie die Galle als wichtigste Agentien thätig sind. Der sauren, alkalischen oder neutralen Reaktion der Säfte des Körpers wurde von ihm eine gleiche, wenn nicht noch höhere Bedeutung zuerteilt, als von Helmont, dem er in diesen wie in ähnlichen Fragen folgte. Mit Vorliebe übertrug Sylvius chemische Erscheinungen in das Bereich physiologischer und pathologischer Prozesse, wobei er häufig auf Abwege geriet. Die gesamte Medizin sollte nach ihm angewandte Chemie werden. Daß diese einseitigen Bemühungen bei dem damaligen Stande des chemischen Wissens fehlschlagen mußten, liegt auf der Hand. Ebenso begreiflich ist aber, daß seine iatrochemischen Lehren weniger der Medizin Nutzen gebracht haben, als der Chemie, insofern die gebildeten Ärzte, wollten sie solche Lehren verstehen, genötigt waren, sich mit chemischen Fragen eingehend zu beschäftigen. Ganz besonders galt dies von den neuen Heilmitteln, deren Bereitung und rationelle Anwendung chemische Kenntnisse voraussetzten. Sylvius, der Verordnung heroischer Arzneien zugethan, scheute sich nicht, Höllenstein, Sublimat, Zinkvitriol zu innerlichem Gebrauche zu verabreichen; besonders begeistert war er für Antimon- und Quecksilberpräparate.

Während nur wenige neue Beobachtungen von Sylvius auf dem Gebiete der Chemie zu verzeichnen sind, hat sein Schüler Otto Tachenius sich als selbständig forschender Chemiker bewährt; von ihm sind überaus wertvolle Wahrnehmungen, sowie daraus abgeleitete Spekulationen überliefert. Über sein Leben weiß man nur, daß er, zu Herford in Westfalen geboren, nach unstatem Herumtreiben als Apothekergehilfe sich gegen Mitte des 17. Jahrhunderts in Italien dem Studium der Heilkunde zugewandt und in Venedig als Arzt gelebt hat. Obwohl er besonderen Wert auf klare Beziehungen der Medizin zur Chemie legte, trug er kein Bedenken, mit Geheimmitteln

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argen Unfug zu treiben. Tachenius ist der letzte namhafte Iatrochemiker gewesen, der mit Begeisterung die Lehren von Sylvius vertrat. Als Verteidiger ähnlicher Ansichten sei neben ihm sein Zeitgenosse, der berühmte englische Arzt Willis (gest. 1675) erwähnt.

Tachenius hat wertvolle Beobachtungen der Chemie zugeführt, auch das Problem derselben, welches von Boyle ab als das wichtigste galt, nämlich die Erkenntnis der wahren Zusammensetzung der Körper, nicht unwesentlich gefördert. Von ihm stammt die erste brauchbare Bestimmung des Begriffes Salz als der Verbindung von Säuren und Alkalien. Seine Angaben über die Zusammensetzung einiger Verbindungen verraten großen Scharfblick, der sich auch in der Verwertung gewisser Reaktionen zum Nachweis von Substanzen bekundete. Während Tachenius auf solche Weise systematischer als seine Vorgänger die Anfänge der qualitativen Analyse schuf, wandte sich sein Interesse auch den bei chemischen Prozessen stattfindenden, bisher kaum beachteten quantitativen Verhältnissen zu, wie er z. B. ziemlich genau die durch Überführung des Bleies in Mennige stattfindende Gewichtszunahme ermittelt hat. – Die Schriften des Tachenius, sowie seines Lehrers Sylvius behandeln meist Gegenstände von vorwiegend medizinischem Interesse, jedoch finden sich darin, wie aus letzteren Bemerkungen hervorgeht, auch für die Chemie bedeutsame Thatsachen und Ansichten verzeichnet.

Will man das Hauptergebnis, welches die iatrochemischen Lehren für die Chemie in ihrer Fortentwickelung gehabt haben, feststellen, so hat man vorzugsweise den schon berührten Umstand zu berücksichtigen, daß die Beschäftigung tüchtig gebildeter Ärzte mit der Chemie zur Einlenkung letzterer in wissenschaftliche Bahnen wesentlich beigetragen hat. Neben den zahlreichen Irrtümern und phantastischen Vorstellungen, in denen die Iatrochemiker befangen waren, finden sich manche überraschend zutreffende Ansichten, welche auf die ganze Richtung des nächsten Zeitalters merklich eingewirkt haben. Es sei an die Feststellung der näheren Bestandteile der Salze und · an die schärfere Fassung des Begriffes einer chemischen Verbindung, sowie der chemischen Verwandtschaft erinnert, durch welche Erkennntnis die Hauptaufgabe der Chemie: Erforschung der wahren Zusammensetzung der Körper, wirksam gefördert wurde; ferner daran, daß die Vorgänge der Verbrennung bezw. der Verkalkung von Metallen und der Atmung als gleichartige angesprochen wurden. Damit setzten sich Meinungen von großer Tragweite fest. Auch die phlogistische Hypothese, die während des größten Teils des 18. Jahrhunderts geherrscht hat, ist bei manchen latrochemikern vorgezeichnet.

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Die Beschäftigung van Helmont’s endlich mit den Gasen war von größtem Einfluß auf die Entwickelung der pneumatischen Chemie, von welcher der Anstoß zu der wichtigen Reform unserer Wissenschaft am Ende des vorigen Jahrhunderts ausging.

Aus alledem ergiebt sich, daß viele Bestrebungen der Phlogistiker mit den eigentlich chemischen Beobachtungen und Ansichten der Iatrochemiker im engsten Zusammenhange stehen. Während ihre medizinisch-chemischen Lehren nach Mitte des 17. Jahrhunderts einem raschen Verfalle entgegengingen, leiteten die der Chemie angehörenden Thatsachen und Ansichten die letztere auf wissenschaftliche Wege.

Bibliography

Meyer, Ernst von: Geschichte der Chemie von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig: Veit, 1895, pp. 59-73.
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