Jaedicke 1928 Sagen

From Theatrum Paracelsicum
Ernst Jaedicke,
Deutsche Sagen
ca. 1928

Text

Doktor Frastus’ Heilkünste und sein Tod
[p. 137]


Doktor Frastus (Theophrastus Paracelsus) war einmal Student. Als er einst während der Ferien nach Hause zu seinen Eltern ging, kam er durch einen großen Wald. Auf einmal hörte er eine Stimme rufen: „Frastus, mach auf! Frastus, mach auf!“ Frastus drehte sich um und bemerkte ein kleines an einem Baume hängendes Gläschen. Dorther kam jene Stimme. Frastus zog nun den Pfropfen aus dem Glase — und heraus kam ein riesengroßer Mann, einige Doktorbücher unter dem Arm tragend. Der Mann reichte nun Frastus die Bücher dar und sprach: „Ich will dich reich und glücklich machen!“ Frastus aber sagte: „Ich habe wohl gesehen, daß du aus dem Kruge herauskamst; aber ich glaube nicht, daß

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du wieder in dieses Gläschen hineinschlüpfen kannst. Mache es mir einmal vor!“ Der Mann schlüpfte wirklich hinein. Frastus aber verschloß sofort wieder das Glas und kümmerte sich nicht um die Drohung: „Frastus, mache auf, sonst spiele ich dir noch einmal einen Spuk.“ Froh, im Besitze der Bücher zu sein, ging nun Frastus weiter. In seiner Heimat gab er sich als Doktor aus. Die Leute im Dorfe aber sagten: „Wie kann denn der Doktor sein, da er gar nicht auf dies studiert hat?“ — und niemand ging zu ihm. Endlich wagte es eine arme, kranke Frau. Er half ihr; da kam ein zweiter, ein dritter, ein vierter. Alle machte er gesund. In kurzem wurde er wegen seiner Heilkünste berühmt. Da nun infolgedessen die anderen Doktoren ihre Kundschaft verloren, so strebten sie Frastus nach dem Leben. Da veranstalteten sie eines Tages ein Fest, zu dem auch Frastus geladen war. Gleich nach dem ersten Schluck wein, den Frastus getrunken, fühlte er, daß ihm weh wurde. Er ging heim, legte sich ins Bett und sprach zu seinem Diener: „Ich bin vergiftet; neun Tage und neun Nächte muß ich nun schwitzen. Ich gebiete dir, niemand ins Zimmer hereinzulassen, bevor die neun Tage und neun Nächte zu Ende sind.“ Frastus schickte jetzt eine Spinne in den Hals hinunter; sie sollte das Gift heraufholen. Am neunten Tage, als er die heraufkriechende Spinne beinahe schon mit der Hand erreichen konnte, klopfte ein altes, schwerkrankes Weib an die Haustüre. Es jammerte und schrie: „wo ist Doktor Frastus; ich muß sterben!“ Immer heftiger drang die Frau in den Diener, ihr doch zu öffnen. Er tat es endlich. Raum hatte er aber die zu Doktor Frastus führende Türe aufgeschlossen, als die Spinne wieder in den Schlund hinunterging. Frastus aber sagte: „Ich muß jetzt sterben und muß sieben Jahre, sieben Monate, sieben Wochen, sieben Tage, sieben Stunden, sieben Minuten und sieben Sekunden im Grabe liegen. Öffne das Grab aber ja keine Sekunde eher, als bis die genannte Zeit verstrichen ist.“ Auch gebot Frastus vor seinem Tode dem Diener, die Doktorbücher in die Donau zu werfen.

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Der Diener nahm die Bücher mit fort und versteckte sie in einer Hecke. Als er heimkam, fragte ihn sein Herr, was er mit den Büchern gemacht habe. Der Diener sagte: „Gar nichts.“ Noch einmal befahl jetzt Frastus, die Bücher in den Fluß zu werfen. Als es geschah, blitzte, donnerte und wetterte es, ja, es bebte die Erde; man meinte, die Welt gehe unter. Als der Diener nach Hause kam, fragte ihn sein Herr wieder, ob er dem Befehl nachgekommen sei. Der Diener bejahte es. „Hättest du nur eines der Bücher für dich zurückbehalten,“ sagte Frastus, „so wärest du glücklich genug geworden.“

Bald darauf starb Frastus und wurde ins Grab gelegt. Aber bevor die sieben Jahre, sieben Monate, sieben Wochen, sieben Tage, sieben Minuten und sieben Sekunden verflossen waren, öffnete der Diener das Grab. Einige Sekunden lang sah er Doktor Frastus blühen wie eine Rose; plötzlich aber zerfiel er in Staub.

Bibliography

Deutsche Sagen, ed. by Ernst Jaedicke, Berlin: Deutsche Buchgemeinschaft, ca. 1928, pp. 137-139.