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Revision as of 17:52, 5 May 2022

Franz Strunz,
Theophrastus Paracelsus
1909

Text

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Theophrastus Paracelsus.

Die Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin, ja sogar die der Philosophie, weist nicht viele auf, die als Gelehrte von so seltsamer persönlicher Eigenart waren, wie Theophrastus Paracelsus 1). Man kann allerdings an Leonardo da Vinci denken,

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1) Oder wie er sich eigentlich schrieb: Theophrastus von Hohenheim. Echt erwiesen ist nur noch die Benennung Theophrastus Bombast von Hohenheim. Bómbast ist der Familienname und leitet sich von boum, bôm u. a. ab. Paracelsus stammt aus einem angesehenen schwäbischen Adelsgeschlecht. Der Stammsitz der Bombaste, Schloß Hohenheim, lag in der Nähe von Stuttgart beim Dorfe Plieningen und ist schon um 1100 nachzuweisen. Die Familie der Bombaste von Hohenheim wird bereits 1270 genannt. — Paracelsus ist am 10. November 1493 an der Sielbrücke bei Einsiedeln im Kanton Schwyz geboren und starb am 24. September 1541 zu Salzburg. Vgl. hierüber meine Paracelsusbiographie und -ausgabe im Verlag Eugen Diederichs, Jena (Bd. I—III, 1903—04).
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an die großen mittelalterlichen Physiker oder an führende Alchemisten, ich glaube aber, es werden sich schwerlich Gegenstücke finden, von derselben originären Kraft und einem ähnlichen stimmungsstarken Namen. Es ist ein geschichtlicher Hauch über diesen Mann, wie er nur die ganz großen und aufweckenden Geister umgab, die unser Leben reich und wichtig gestaltet haben, aber deren Gaben und Neigungen bald — gar zu bald — zu einer mythologisierenden Deutung drängten. Fast bei keinem Zweiten der Geistesgeschichte hat der „Ruhm“ so entstellt und entwirklicht, so rasch und sicher das einst Lebendige in einen Mythus gewandelt, als bei diesem schlichten und ehrlichen Mann. Auch von ihm kann man sagen, daß seine Entelechie posthum weiter wirkte, allerdings indem alle Erinnerung Blüten der Dichtung und des Märchens hervorgebracht hat. Man hat ihn in das grelle Licht des „Ruhmes“ gestellt und damit seine geschichtliche Wirklichkeit beinahe vernichtet.

Er wirkte in einer Zeit, als ein neues Gefühl des Lebens sich langsam aus den spätmittelalterlichen Stimmungen entbindet und eine völlig neue Menschenkunde sich vorbereitet, als überhaupt der Sinn für die Beobachtung des Menschlichen und dessen Vertiefung in die Person feiner wird. Das Persönliche, seine sichtbare Seite und die physiologischen Ausdrucksmittel des Seelischen schaffen an einem neuen Geschmack, d. h. an einer neuen „Sinnlichkeit der Vernunft“. Und das Gefühlsverhältnis zur Natur gestaltet sich wieder — wie einst in den Tagen der abblühenden Antike — intimer und individueller, ja es fand eine neue Sprache, ihre Besonderheiten und dunkeln Zufälle persönlich auszudrücken. Das neue Lebensgefühl war eng verbunden mit einer neuen Fähigkeit des Einfühlens in die Natur. Aber das alles wird noch reicher an Formen und Färbe, wenn man erwägt, daß Paracelsus als akut religiöse und außerkirchliche Persönlichkeit vollständig auf eigenem Boden steht und aus einer Frömmigkeit des inneren Erlebens, der subjektiven Gewißheit und symbolischen Rede Welt, Ich und Menschen beurteilt und vergeistigt. Seine ganze Naturforschung steht unter der Idee des Göttlichen und Ewigen und ist im wahrsten Sinne des Wortes „eine Betrachtung der Geschehnisse des Lebens vom allerhöchsten Aussichtspunkte aus“. Und aus diesen Stimmungen ist sein reiches

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Werk emporgestiegen, aber auch sein Sich-opfern, Helfen und Treusein, wie überhaupt alle Betätigungsformen seiner Seele. Es waren wenige unter den Menschen der Renaissance, die der echten Sprache des Jesustums so starke Mächte entbunden und sie dabei mit erquickender Freimütigkeit in die uralte Melodie des Naturgeschehens verwoben haben, Menschen, die mit gleicher Gefühlsinnerlichkeit für die unmittelbaren Beziehungen der Seele zum Unendlichen so ergreifende Worte fanden. In diesem Sinne war Paracelsus auch Mystiker und Gefühlsphilosoph, denn die Einheit des Seelischen und Sinnlichen, des Subjekts und Objekts war im Tiefsten seiner Empfindung verankert und erfüllte sein ganzes Wesen. Auch bei ihm erwacht das Erkennen zuerst aus warmem innerem Erleben, das an Mystik gemahnt und Gefühlsspekulation genannt werden kann. Seine „Natur“ ist nicht immer logisch verknüpftes Experiment und Darstellung der Gesetzmäßigkeit des Wirklichen, sie weist auch auf „Kompromisse zwischen Sinn und Ausdruck, Inhalt und Form“, d. h. sie weist auf Allegorien. Ganz so wie ihm auch das Symbol, „das Sichtbarwerden der Verbindung von Wesen und Erscheinung“, ein Schlüssel zum Verständnis von Welt und Mensch ist. Als ob er es schon gefühlt hätte, daß es für die zartesten Erlebnisse, die uns Unsichtbares sichtbar gemacht haben, eigentlich keine Gesetze und Formeln gibt, daß man sich außerhalb seiner selbst suche und doch letztlich die Natur in seinem Inneren findet. Sie und das Göttliche sind die Angeln aller Medizin, „denn der Arzt ist der Knecht der Natur, und Gott ist der Herr der Natur, aber kein Arzt weiß den Termin der Gesundheit, da ihn Gott in seiner Hand hat“. In dieses Wort legte Paracelsus den tiefen und köstlichen Sinn seiner ärztlichen Ethik. Wie gesagt, das neue Lebensgefühl der Renaissance, das sich anfänglich so langsam und dann mit großer Kraft aus der Kontinuität des Mittelalters entwickelt hat, führte zu einer neuen inneren Stellung zur Natur, zu einer neuen, in bunter Vielfalt sich differenzierenden Fähigkeit des Einfühlens in die Natur, das uns ihre wunderbarsten Resonanzen des Lebens und des Todes empfindbar macht. Das ist das Naturgefühl, wie es in den großen Naturforschern und Arzten der Renaissance wohnte und die Schätze ihrer Erfahrungen mit den Symbolen ihrer Seele umgab. Auch das ist ein Zug, der sofort an Para-

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celsus denken läßt. Aber noch vieles andere, das das völlig abblühende Mittelalter vorbereiten half: die persönliche Innerlichkeit des religiös-sittlichen Prozesses und die neue Frömmigkeit des inneren Erlebens, der subjektiven Gewißheit und symbolischen Rede, die Ablehnung aller religiösen Technik, die Deutung der Welt aus dem „Lichte der Natur“, d. i. dem Göttlichen, das die Welt zur Vollendung bringt, damit sie ebenfalls göttlich werde. Und unter „Welt“ verstand Paracelsus auch das Geringste, das uns der Alltag zuträgt, die ganz unscheinbarsten Dinge, von denen man nur selten spricht und doch — „seltsam weit, als ob es mehr bedeute, hört man das Wenige, das noch geschieht“.

In dem buntfarbigen geistigen Leben des ersten Drittels des 16. Jahrhunderts taucht der große Naturforscher und Arzt in deutschen Landen auf. Seine Persönlichkeit muß schon damals Chronisten und Zeitgenossen eigenartig und geheimnisvoll erschienen sein. Sebastian Franck schrieb in seiner „Chronica, Zeytbuch und Geschichtbibel“ (1565): „D. Theophrastus von Hohenheim ein Physicus und Astronomus. Anno 1529 ist gemeldeter Doctor gen Nürnberg kommen, ein seltsam wunderbarlich Mann . . . .“ Sein Lebensweg führte ihn weit hinaus in schweizerische, deutsche und österreichische Gaue, bis er nach einem vielbewegten Gelehrtenschicksal im rüstigen Alter — als Achtundvierzigjähriger — in der Stadt Salzburg vom Tode ereilt wurde. Demnach ist eigentlich dieser schwäbische Adelige durch viele Fäden mit dem bunten Gewebe deutscher Geistesgeschichte verbunden, so daß es für sich schon eine reizvolle Aufgabe wäre, zu schildern, warum und wie er in sie hineingetreten und auf welchen Wegen er gegangen ist, ob er es vermochte hier die wissenschaftliche Höhenlage zu steigern vermittelst der Kraft der Persönlichkeit, die hinter seinem großen Werk stand. Doch das soll mich im folgenden nicht in erster Linie beschäftigen, da ich eine viel allgemeinere Frage in den Vordergrund zu rücken versuche: Wie steht die Naturforschung des Paracelsus in der Geschichte der geistigen Kultur seiner Zeit und was vermag sein Werk auch uns noch heute fühlbar zu machen?

Die Geschichte der Naturwissenschaften erlebte in der Renaissance die große Wandlung: die harte Naturentfühlung, wie

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sie die scholastische Dialektik einst durchzusetzen vermochte, war als Zeitgeist im Ausklingen und schon machten sich überall die ersten verheißungsvollen Anfänge der natürlichen Weltwertung und einer exakten Erschließung des Wirklichen, überhaupt eine im Wesen neue, gedankenmäßige Empfindungsnachbildung bemerkbar. Es ist die große Reaktion gegen die scholastische Wortkunst zur Zeit der Abblüte des Mittelalters, diese seltsame Erregung und Bewegtheit der Seelen, die aber doch eigentlich im letzten Grunde ganz aus der Kontinuität des Mittelalters hervorgegangen sind. Ohne sie keine Renaissance. Trotz aller Verschüttung und Unterdrückung zeigen sich schon im Mittelalter Jahre, die uns Renaissanceluft energisch fühlbar machen, Jahre, die genugsam Verbindungen lebendig erhielten bis in die sonnigsten Tage, die Florenz und Rom gesehen haben, Tage, in denen das Bild Dantes auftaucht, die großen Künstler des Quattrocento, das Fürstentum der Päpste, das goldene Zeitalter und Raffael und Michelangelo. Ja es gab schon im ganzen Mittelalter Epochen, durch die jene feine Erregung und Bewegtheit der Seele hindurch ging. Z. B. am Ende des 12. und am Anfang des 13. Jahrhunderts: man denke an die frühgotische Baukunst, an die Art des Fühlens in der ritterlichen Liebesromantik, an die Poesie der Provence! Jene feinere Anmut, wie sie in der Auffassung der hellenischen Welt später die eigentliche Renaissancezeit zeigt, jene Wärme und Zärtlichkeit, mit der man dann Platon und alles Klassische liebte — freilich oft so ganz unhistorisch, wie es etwa der Plato des Pico della Mirandola zeigt — sie war schon damals lebendig. Denn schon das Mittelalter kannte in seinen Zeiten des Aufschwungs Individualität und Persönlichkeit. Wie viel scharf umrissene Köpfe besitzen wir nicht aus jenen Tagen! Der Individualismus war schon immer da, nur fand die sinnlich-natürliche Auffassung der Welt und eine reichere, differenziertere Darstellungsfähigkeit im Mittelalter wenig Anregung. Das entfernte auch von der Natur und von dem Wissen, Denken und Empfinden über sie. Für die Welt der Naturgesetzlichkeit hatten nur bestimmte Gelehrtenkreise in ihrer Art Interesse. Und das war meist wieder eingehüllt in die Fülle von scholastisch-philosophischen Denkmöglichkeiten und logischen Typen, die wenig geistige Bewegungsfreiheit gestatteten.

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Trotz der Großartigkeit und der erstaunlichen Konsequenz, die in der kühlen Architektonik dieses Denkens lag und trotz aller starken Phantasiehaftigkeit, die das Mittelalter so vorbildlich aufweist. Und dann so unerhofft der Vorfrühling, dessen Sonne bereits so viel Innigkeit hatte! Ein liebenswürdiger Dichter und Mönch, Franz von Assisi, der früheste Vorbote der Renaissance und in der Selbständigkeit seines religiösen Lebensgefühls dem Paracelsus so vielfach ähnelnd, hat künstlerisch und als Persönlichkeit die Natur wieder in das Licht des Göttlichen gestellt, ihr Menschen zugeführt und das Ewige im Endlichen, im Kleinsten und Unscheinbarsten geahnt. Er hat die ersten dichten Schleier von der „teuflischen Natur“ weggenommen, indem er mit der Schärfe des feinen Ethikers zu erkennen schien, daß Furcht und Lieblosigkeit Schatten für den Menschen sind, für den persönlich ausreifenden, als auch für den künstlerisch oder wissenschaftlich schaffenden. Es waren die ersten großen Wiederentdeckungen auf dem Gebiete der menschlichen Seele! Und der erste Mann, der von ihm in einer neuen Farbensprache redet, Giotto di Bondone, war schon von seinem Geiste erfüllt, von derselben wunderbaren Erregung, Naturliebe und von demselben starken und aufweckenden Lebensgefühl.

Aber, war denn das Mittelalter an Naturbetrachtungsvermögen wirklich so arm und hat es einer „Neuentdeckung“ bedurft, damit wieder „Landschaften der Seele“ in Dichtern und Künstlern sich aufbauen können? Das antike Naturgefühl erlebte seinen Hochsommer im Hellenismus, in jener genießenden Kulturwelt, die seit Alexander dem Großen als ein farbenprächtiges Gemisch aus Okzident und Orient aufging und soviel internationale Weitherzigkeit unter die Menschen brachte, so daß man sich, wie nie, fremden Gefühlen erschließt und die eigenen in Mischung bringt. Damals ziehen sie herauf, die Meister der sentimentalen Schilderung, der innigen Stimmung, des Idylls. Drama, Epigramm, Epos und Roman erhalten durch ein gesteigertes Naturgefühl, durch die heiße Glut sinnlicher und erotischer Empfindsamkeit völlig neue Akzente. Das Gefühlsverhältnis zur Natur gestaltet sich immer intimer und individueller, ja es vermag sogar die leisesten Melodien der Dinge in eine idyllisch gestimmte Sprache umzusetzen, und Sein und Werden, Reifen und Welken, überhaupt

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alle Erfüllungen eines Lebens erwachen als persönliche Werte in der Seele. Man projiziert seine Gefühle auf die Welt der Natur und empfängt sich selbst dann reicher, tiefer und seelisch verfeinert zurück..... Und dabei blühen auch die gedankenmäßigen Beschäftigungen mit der Natur und ganz besonders die Detailforschung. Der Hellenismus ist nicht nur die umfassende geistige Welt des Griechentums, sondern auch das wissenschaftliche Zeitalter der Antike überhaupt. Freilich hörte das langsam auf, als sich neue, jugendlich-herbe Kulturmächte auf dieses Land der Seele stürzten, auf dieses sonnige Gefühlsleben einer naturalistisch-optimistischen Zeit.

Bis ins 6. Jahrhundert bebt die antike Erregung und all ihr Drängendes und Spannendes im Mittelalter nach, und immer und immer finden sich große Literaten, die trotz des oft rein theologischen Sprachtones aus dem alten seelischen Erleben heraus von der Natur reden. Ich erinnere an die drei großen Kappadozier 1), dann an Augustinus, Apollinaris Sidonius und Ausonius. Wie aus einer längst fern gewordener Zeit redet der Dichter Venantius Fortunatus im Frankenland, und mit ihm wohl verlischt das Letzte, was vom antiken Naturgefühl noch nicht tot war.

Nur sehr zögernd reift in ähnlichem Werdegang das mittelalterliche Naturgefühl zur Renaissance, wie das antike sich einst zur hellenistischen Empfindungswelt gesteigert hat. Es ging ganz schrittweise mit der geistigen Kultur. Das Naturgefühl der Kreuzfahrer, wie wir es in ihren Reisebeschreibungen suchen, ist ein meist nüchternes Sehen des Nützlichen. Feld und Wald Stadt und Hafen werden ob ihres ökonomischen Interesses bewundert. Selten erzählt man — wenigstens in knappen Worten —, daß eine Gegend anmutig oder grotesk sei. Und das deutsche Volksepos? Nun, hier wird — obwohl das Frühgermanentum ein so herrliches Naturgefühl hervorgebracht hat — der Erscheinungen in der Natur (von Stimmungen ganz zu schweigen) recht dürftig typisierend und nüchtern gedacht. Die Weltliteratur kennt kein zweites Epos, in dem Zeit und Ort so kühl gezeichnet werden, wie in unserem Nibelungenlied. Ein wärmerer, sinnlicherer und bewegterer Ton dringt schon im höfischen Kunstepos durch. In


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1) Gregor von Nazianz, Basilius von Cäsarea, und dessen Bruder Gregor von Nyssa.
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dem geistreichen Gottfried von Straßburg spricht bereits das Landschaftliche, wenn auch in einer noch wenig intimen Sprache. Aber gewiß fühlt er es schon, daß sich das Geistige durch das Natürliche symbolisieren läßt, und in der eigenartigen Psychologie seiner epischen Kunst, die doch eine so meisterhafte Fähigkeit der Reflexion auszeichnet, finden sich genug Pfadweiser in eine Zeit völlig anderen, daß heißt modernen Naturerlebnisses. Auch die Liebeslyrik der provenzalischen Troubadours, die dann in der beginnenden Renaissance so machtvoll und lebendig auf Petrarca gewirkt hat, spricht feineres Naturgefühl aus, indem sie ebenfalls die Inhaltlichkeit des Menschen zur Natur in Beziehung zu bringen versucht. Matter, einförmiger und kurzatmiger ist das bei den deutschen Minnesängern. Sie kennen keine individuelle Anfassung des Landschaftlichen. „Ein Naturgefühl — wie Alfred Biese sagte — das die Natur um ihrer selbst willen sucht, ist ihnen nicht aufgegangen, selbst die Vergleiche und die kontrastierende und harmonierende Gegenüberstellung von Natur und Gemütstimmung sind einförmig. „

Das alles wird anders, als der spätmittelalterliche Mensch sich dann selbst als Individuum neu entdecken muß und seine Inhaltlichkeit und das Triebwerk der Affekte zu durchforschen beginnt: da löst auch die Außenwelt ein Neues in ihm aus, das man seit den hellen, klaren Tagen des Hellenismus vergessen hatte, und das nun wie eine neue künstlerische Erregung und Bewegtheit über den Volksgeist Italiens kommt. Es war das sentimentale Naturgefühl. Schon in Dante, Petrarca und Enea Silvio hat sich dieses neue Erlebnis angekündigt. Als nun die machtvolle geistige Erregung — und das war ja die Renaissance — nach dem Norden rückt und hier mit dem neuen, allerdings auch aus rein mittelalterlichen Voraussetzungen hervorgegangenen religiösen Lebensgefühl und Zeitgeist der Reformation zusammenstößt, da wurde das hervorgebracht, was wir heute — ich spreche vom Standort der Geistesgeschichte — „deutsche Renaissance“ nennen. Dieses intime Heimleben mit seiner volkstümlichen, spießbürgerlichen Schlichtheit, diese gemütvolle, echt deutsche Tiefe und Märchenpoesie, wie sie der gedankenreiche Albrecht Dürer in seinem Werk verewigt hat.

Und das ist auch ein wichtiger Grundzug in der Persönlich-

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keit des Paracelsus. Freilich, und das vergißt man immer, kommt bei ihm noch etwas anderes dazu, etwas so Eigenes und Einzigartiges, das ihn so schwer in Bausch und Bogen „systematisieren“ läßt und das vorzüglich den üblichen, laienhaften Paracelsusdarstellungen, die noch immer mit einem schweren Stück sogenannter „Mystik“ und alberner Geheimniskrämerei befrachtet werden, direkt entgegengesetzt ist: Erstens einmal seine außerkirchliche, tiefreligiöse Gesinnung, die weder mit Luther noch mit Rom 1) sympathisiert und vielmehr an die humanistischen Ideale jener Brüdergemeinden und Gesellschaften des Spätmittelalters und der Renaissance erinnert. Zweitens die seltsame Vereinigung von Humanismus, urchristlichen Idealen und Romantik mit nüchterner Naturforschung und Empirie.

Ich möchte darum Paracelsus am liebsten als sogenannten „christlichen Humanisten“ verstanden wissen, als einen Naturphilosophen, der die Erkenntnis der Natur, die Beziehungen der Menschen zu der Natur und der Menschen untereinander auf eine Formel bringt, d. h. auf eine Alleinslehre gründet und dabei immer echt platonisch und christlich redet, so wie sie stets die Klassiker dieser Weltanschauung damals verkündeten: „Die Einheit und die auf sie gegründete Vereinigung ist das Ebenbild Gottes; denn Gott ist ein Wesen und doch alles, er ist alles und doch eins!“ .... Die Natur ist die Inkarnation der Seele, sie ist materialisierter Geist. Aber dieser Geist wirkt überall und gestaltet auch unseren Leib. Wir können alles sinnbildlich deuten, denn das Ganze oder der kleinste Teil der Welt ist Gleichnis und Bild. Die Natur ist nur wie eine Geheimschrift Gottes, die wir aber entziffern müssen.

Aber, wie gesagt, auch der Kern dieser Naturphilosophie zeigt so recht klar den scharfen Bruch mit dem mittelalterlich- kirchlichen Naturbild: für Paracelsus und seine Vorläufer im Süden gelten der Glaube an die Innerweltlichkeit Gottes und das Gottesreich des Diesseits, während die Scholastik das willkürliche Eingreifen eines außerweltlichen Gottes verkündet. Auch diese Verschiebung scheint mir aus einer Verinnerlichung


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1) Auch den Wiedertäufern, Sakramentierern, Zwinglianern stand er fern. Trotz seiner antikonfessionellen und durch und durch philanthropischen Gesinnung blieb er zeitlebens Katholik.
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des Naturgefühls hervorzugehen, daß der ursprünglich kosmisch- religiöse Grundton des Weltbildes persönlich und gefühlsmäßig wird. Es lag dies überhaupt in der Zeit. Brachte doch die deutsche Renaissance eine beispiellose religiöse Durchdringung aller Denkbezirke. Aber nicht allein, daß neue Willensrichtungen wachgerufen wurden, auch alte, vielfach versandete Ströme — ich erinnere nochmals an die außerkirchlichen Bewegungen und ihre „christlich-humanistischen“ Ausformungen — brechen nunmehr stärker wie zuvor durch. Der universalistische Gottesglaube aber war jetzt nicht eine starr dogmatische Voraussetzung der Naturbetrachtung, sondern er führte das kosmische Weltbild herauf, das ein Einklang und Rhythmus von gesetzmäßigem Geschehen ist. Und diese Überzeugung schlug sich nicht nur in Paracelsus, sondern auch in dem Denkleben von Männern wie Sebastian Franck, Hans Denck, Kaspar von Schwenckfeld, Amos Comenius, Leibniz, Galilei u. a. nieder.

Das Gesamtbild der paracelsischen Naturwissenschaft und Medizin, soweit es sich heute annähernd nach dem Handschriftenmaterial, wie es uns durch Karl Sudhoffs grundlegende Forschungen erschlossen wurde, ersehen läßt, scheint sich mir aus diesem neuen Geist einer neuen Menschenkunde und Theorie der Lebensführung zu erklären. „Die Änderung der Lebensverhältnisse während des 15. Jahrhunderts — Wilhelm Dilthey wies erst wieder vor kurzem darauf hin — rief im Gegensatz zur Weltverneinung des Mittelalters ein neues Gefühl des Lebens hervor, und das unter diesen Bedingungen entstehende Wiederverständnis des Altertums gab Material und Formeln, es auszudrücken. Die Bejahung des Lebens war der Grundzug der neuen Zeit; der Mensch und seine natürlichen Verhältnisse zu seiner Umgebung wurden Mittelpunkt des Interesses; sich ausleben, seinen Machtwillen geltend machen, in der Schönheit des Lebens und in deren Reflex, der Literatur und Kunst, sich selber genießen — dazu ein verschärfter Sinn für die Auffassung der Charaktere, für die Kennzeichen der Leidenschaften und für das Triebwerk der Affekte, wie er an den Höfen und in den Stadtrepubliken sich ausbildete: — dies war der neue Lebenszusammenhang, der sich über den Horizont des Bewußtseins damals erhob. Und der philosophische Reflex hiervon war eine umfangreiche Literatur: ihr Gegenstand

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wär der Mensch, die physiologische Bedingtheit des Seelenlebens, die Macht der Affekte, die Temperamente, die Verschiedenheit der Charaktere von Individuen und von Völkern, die Physiognomik und der sonstige Inbegriff von Mitteln, Charaktere zu erkennen, und endlich die Folgerungen aus dieser Menschenkunde für die Lebensführung: sie bezogen sich auf das Betragen, Verständnis und die Behandlung anderer Menschen und Bestimmung des sittlichen Lebenszieles. Die Grundformen philosophischer Lebenshaltung, wie das Altertum sie entwickelt hatte, treten jetzt zuerst wieder mit offenem Visier und in freiem Tageslicht uns entgegen.“ Wer z. B. die didaktisch-ärztlichen Schriften des Paracelsus kennt — auch Paragranum und die beiden Paramirumbücher gehören dazu — findet diesen Zug auffallend wieder. Das sind auch die Ansatzpunkte für die Verbindungsfäden mit der philosophischen Physiognomie des Lorenzo Valla, Erasmus, Cardano, Macchiavelli, Leonardo da Vinci, Montaigne, Justus Lipsius, Giordano Bruno, aber auch mit der Kunst Leonardos, Dürers und Shakespeares. Aus derselben gesteigerten Empfänglichkeit reifte auch die neue exakte Wissenschaft des Kopernikus, Kepler, Galilei und Deskartes! Denn was sie alle innerlich nahe bringt und einander verwandt macht, das ist eben jene Erhebung ihrer Lebensstimmung zu „philosophischem Bewußtsein“ und zu einem persönlichen Stil des Denkens.

Ja, man kann darum sagen, daß die Ansichten über Natur und Mensch, wie sie geniale Naturforscher und Arzte damals ausgesprochen haben, auch in Kunst und Dichtung einen leisen Widerhall fanden. Waren es doch ähnliche Triebkräfte, die hier neugestaltend wirkten: die individuelle Eigenart, die neue Anatomie — ich erinnere nur an Leonardo da Vinci, gewissermaßen ihr Begründer, den dann Vesal beerbt hat, — die feineren Vorstellungen von Leben und Tod, von Gesundheit und Siechtum, überhaupt die neue Wertung des Sinnlichen und der körperlichen Ausdrucksmittel am Menschen. Wahrnehmung und Affekt sind nun etwas ganz anderes geworden. Die beiden größten Meister der Charakteristik und des Ausdrucks Leonardo und Dürer haben das in glänzender Weise gezeigt. In beiden ist soviel von einem ins Künstlerische umgewerteten Paracelsus. Auch Shakespeares oder Molières Gestalten atmen den von natur-

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wissenschaftlichen Interessen durchsetzten Geist und zeigen die sinnliche, physiologische Seite an den Triebkräften ihrer Seele. Oder wie das Dilthey so fein sagte: „Sie fördern die Kunst mimischer Darstellung wie keine anderen, und ermöglichen sie, weil schon dem Dichter die körperliche Seite der innerlichen Zustände immer gegenwärtig war. Und auch die Begriffe dieser großen Dichter über das Verhältnis des Charakters zum Schicksal hängen zusammen mit den Debatten jener Tage über diese Frage.“ Somit zeigen auch diese scheinbar ferner liegenden Gebiete die enge Verwandtschaft mit dem geschichtlichen Prozeß, wie ihn die Naturwissenschaften in der Renaissance erlebten.

Paracelsus faßt Gott, Welt und Seele als ein Einheitliches zusammen: Gott ist die Welt, die Welt ist beseelt und die Seele ist göttlich. Darum der unendliche Wert der letzteren. Des Paracelsus Naturphilosophie und seine mystische Einheitslehre ruhen auf diesen Voraussetzungen. Unser letzter Grund ist auch der Weltgrund, unser tausendfarbiges Leben ist auch der Welt Leben, es ist Vergottung, so wie Gott sich wieder entgottet und Natur wird. Das ist ein fortdauernder Umsatz des Göttlichen, Psychischen und Physischen; Himmel und Erde sind dasselbe, denn der Mikrokosmos ist der Mikrokosmos. Und umgekehrt. Der Mensch ist die Natur und die Natur ist der Mensch. Immer kehren sie in der anthropomorphisierenden Naturphilosophie des Paracelsus wieder: Lebenseinheit, Unendlichkeitsgefühl, Erklärung der Natur aus dem Menschen. Ganz besonders redet darin die Gefühlsphilosophie der Renaissance und des Humanismus, so gut wie aus den Makrokosmos-Lehren der Cusanus, Reuchlin, Agrippa u. a. oder aus der sensualistischen Verherrlichung des Menschen bei Melanchthon, Taurellus, Luther und J. Böhme. Es ist dann nur eine notwendige Konsequenz dieser Weltanschauung, wenn Paracelsus meint: der Philosoph findet nichts anderes im Himmel und in der Erde, denn was er im Menschen auch findet, und so auch der Arzt nichts anderes im Menschen, denn was Himmel und Erde auch haben. Das ist echte Renaissancephilosophie 1).

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1) Bekanntlich sind diese Vorstellungen aus uralten orientalischen Quellen geflossen. Schon in frühesten Zeiten kündet sich dieser Prozeß an, daß man zu erleben beginnt, wie mathematische Gesetze das Universum im gleichen Maße wie den Menschen beherrschen und wie der kosmische

[S. 59] Aus solchen Voraussetzungen heraus haben wir auch den naturpoetischen Paracelsus zu verstehen, den Prosadichter, den Künstler der parabolischen Bildersprache, der intimen Metapher, verhüllenden Allegorie und der romantischen Erfahrungen, Instinkte und Gefühle. Auch er hat das Symbol als ein Lebendiges empfunden und damit die sich offenbarende Verbindung von Wesen und Erscheinung herausgefühlt.

Aber es wäre falsch, in Anbetracht dieses kräftigen und lenksamen Phantasielebens auf eine so geartete Naturwissenschaft zu schließen. Vielmehr, er steht im kritischen Natursehen, in seinem gegenständlichen Auffassen der Welt, in seinem empirischen Interesse und Unterscheidungsvermögen fast völlig auf dem Boden einer exakten Forschung, einer Erfahrungswissenschaft, die wirklichkeitsgetreu und beurteilend zu sein sich bemüht mit allen Mitteln einer damals beispiellosen Wertung und Sinnesauffassung, eines in jener Zeit einzig dastehenden induktiven Vergleiches und genialen Zusammenfassens. Das bedeutete also für Paracelsus das Nachdenken der Wirklichkeit, ihrer kausalen Begründung und ihres eigentlichen Sinnes. Es handelte sich ihm um eine Zergliederung mehrgliederiger, zusammengefaßter Erscheinungen und Entwickelungsreihen. Seine praktische Naturwissenschaft — insbesondere die Chemie — und die Medizin schöpften nur aus dem methodisch ausgeführten Versuch. Er führt eine Praxis herauf, die als Erfahrung überhaupt Gebiete betrat, die seine Tage einfach nicht ahnten. Es lag eine auffallende Liberalität und Paradoxie in der Wahl der Mittel; aber dabei wieder eine strenge Eindeutigkeit und Schärfe in der theoretischen Begründung, eine naturwissenschaftliche Verallgemeinerung in der Erkenntnis der Ursachenzusammenhänge, wie sie erst einer weit späteren Zeit zukam. Freilich muß man in seine bilderreiche Sprache und in den naturwissenschaftlichen


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Zusammenhang sich im Geiste spiegelt, denn Ich und Außenwelt „umspannt ein idealer, unendlicher Kreis“. Es herrschen zwar einheitliche Gesetze in der Natur, aber ihre Formen und Symbole sind wandelbar. — Auch Paracelsus versteht — ganz im Geiste der Renaissance — den Menschen aus der Natur, gerade so wie er die Natur nach dem Wesen des Menschen wertet. Der Mensch ist das Buch, in dem alle Weltgeheimnisse zu lesen sind. Vgl. die Abhandlung: Die Entwickelung der Alchemie.
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Terminus eindringen. Er redet die Sprache des Alchemisten und ist doch ernst forschender Chemiker; er redet die Sprache des Astrologen und ist Astronom und Meteorologe; er redet oft das Deutsch der Mystik und ist humanistischer Naturphilosoph. Das ist es eben, daß er in der Ausdrucksweise seiner Umgebung sich verständlich zu machen sucht und dabei doch ganz Neues sagt, das den mittelalterlichen Bestand von scholastischer Naturphilologie, naturentstellender Geschmacklosigkeit und lebenverneinender Ethik rücksichtslos zertrümmert. Seine Forschung war ein provokatorisches Sichaussondern! Hierin war Paracelsus ein herausfordernder Geist und damit hat er auch als Arzt gegen die galenische Heilkunde gesiegt. Allerdings die Erntezeit hat er nicht erlebt.

Worauf es ihm immer ankam, war, zu zeigen eine „Schule des Lichtes der Natur“; er begann den Drang zur Tatsache, zum Sehen und zum Nomothetischen zu lehren, um dann aus diesen realistischen Erkenntnissen heraus zu einer geschlossenen lebenbejahenden Weltanschauung und Welterklärung zu kommen, zum Problem des Wirklichen überhaupt und seiner Erkenntnisvoraussetzungen und -grenzen. Seine Auffassung der Materie zeigt bereits starke exakt-chemische Akzente 1).

Dazu kommt die von uns schon erwähnte Anschauung von der Gegenüberstellung des Mikrokosmus, also vom Einzelindividuum als einer Welt en miniature, als Spiegel des Universums einerseits und des beseelten und die Fülle der Kraft Gottes


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1) Die substanzbildenden Qualitäten Schwefel, Quecksilber (mercurius), Salz, bzw. ihre entsprechenden Phänomene: Brennbarkeit (Öligkeit), Verflüssigung (Vernichtbarkeit) und Erstarrung (Festigkeit), sind bereits mehr chemisch als symbolisch zu verstehen. Das sind also die drei eigentlichen Bausteine und Kräfte der Stofflichkeit. Im höheren Sinne stehen sie zu Seele (Stoff-), Geist (Eigenschaft) und Leib (Gestalt) in entsprechender Beziehung. Der Gedanke von den „qualitates occultae“ beginnt erheblich zu verblassen, wenn auch das Wesentliche eines Zustandtypus noch nicht verdrängt ist. Die genannten drei Prinzipien stellen für Paracelsus die Voraussetzung aller Wirklichkeit vor, sind Grenzen aller Artensonderung und letzte Bestandteile. Sie bezogen sich daher auch auf Bewegtes und Körperliches, umfaßten Entstehen und Vergehen, Zunahme und Abnahme, Verwandlung und Ortsveränderung, also letzte Prinzipien, aus denen etwas besteht und die selbst in Arten sich nicht teilen lassen.
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allerorts enthaltenden Weltganzen andererseits. Wir treffen diesen Gedanken, wie gesagt, bereits vor Paracelsus als ein antikes Erbe. Man nehme nur Platos Timäus zur Hand oder gehe noch weiter zurück auf die uralte babylonische Weltbetrachtung und Astronomie. Vertrat sie doch die Vorstellung einer Art prästabilierten Harmonie, wenn sie das Dogma obenan setzt: „alle irdischen Dinge und alles irdische Geschehen sind in himmlischen Vorbildern vorgezeichnet.“ Es ist eine mystische Übereinstimmung — wenn man so sagen darf — zwischen Natürlichem und Seelischem, zwischen Welt und Mensch. Was Himmel und Erde trägt und erlebt, das ist alles auch im Menschen. Darum gelten für sie auch dieselben Verbildlichungen, weil sie aus einem Allgefühl heraus sind. Hier liegt der Kern der paracelsischen Naturphilosophie!

Das Wesen der Praxis, wie sie Paracelsus übte, ist, daß er eine chemisch-therapeutische Heilkunde und physiologisch-pathologische Chemie begründet hat, daß er mit der hellen Sinnlichkeit der Renaissance den Sinn für das Leben wachrief und dadurch biologischen Interessen freiere Bahnen schuf. Immer klingt es durch: „Erfahrenheit“, „Wohlgeübtsein“, „Experiment“, Beschreibung der Tatsachen, das seien die Wurzeln jeder Naturforschung und Heilkunde, und dann auch eine weite Erfahrung in rein chemischen Fragen 1). Seine Methode charakterisiert sein berühmtes Wort: „Viele haben sich der Alchimey geeußert, sagen es mach Silber und Gold: so ist doch solches hie nicht das fürnemmen, sondern allein die Bereitung zu tractieren, was Tugend und krefft in der Artzney sei.“ Oder die Stelle im 3. Traktat des „Buches Paragramm“: „Nicht als die sagen, Alchima mache Gold, mache Silber: Hie ist das fürnemmen, mach Arcana und richte dieselbigen gegen die Krankheiten.“ Das ist der Grundton seiner praktischen Arbeiten, und die vielfachen Untersuchungen auf dem


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1) Ein Reformatorisches in der Therapie des Paracelsus ist die Einführung metall-chemischer Methoden und die Hervorhebung bestimmter Präparate wie metallisches Quecksilber, Quecksilberchlorid (Sublimat), Queeksilberchlorür (Kalomel), Merkurisulfat (bzw. das basische Salz SO4 Hg. 2 Hg O, das sogenannte Turpetum minerale). Auch die Fällung von Sublimatlösung durch Ammoniak und das sich dabei bildende Merkurammoniumchlorid (Hydrargyrum präcipitatum album, Hg Cl N H2) waren bekannt. Dann erinnere ich an die Anwendung des neutralen Bleiacetats (Bleizucker), Kupfervitriols (Kupfersulfat), der Antimonverbindungen u. a.
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Gebiete der Arzneimittellehre, seine Verwendung von Kupfer, Quecksilber, Eisen, Antimon, Zink, der feine und kritische Sinn im Hinwegschaffen von wertlosen Kurpfuschereien aus dem Arzneischatz, zeugen von dem Genie eines wissenschaftlichen Arztes der damaligen Zeit. Und ich erinnere an die Paracelsusauffassung, daß alle Dinge Gift sind und nichts ohne Gift ist, und daß die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist. Das Theorem von den vier Kardinalsäften (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) galt ihm Schall und Rauch. Eine chemisch-therapeutische Heilkunde und eine physiologisch-pathologische Chemie waren der Ersatz, und immer nur der unendliche Wert des Lebens und der heilige Dienst am Nächsten galt als das allein Große, an das er alle Zweigdisziplin anschloß. Nur was auf dieser ethischen Linie stand, hatte für ihn Wert.

Dann war es ein Neues mit den Anschauungen über das Wesen der Assimilation und Resorption des Verdauungsprozesses, ein ganz Neues mit der Diagnose der Koagulationsvorgänge, Exsudationen, Konkrementbildungen, mit dem erstaunlichen chemischen Verständnis für Säure und Alkaliwirkung und ihrer Rolle in einer Krankheitsgenese 1). Auch die Wirkungen der Hypnose


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1) Die Lehre vom Tartarus, ein Hauptbestandstück seines medizinischen Systems, bezog sich auf die Erscheinungen des inneren menschlichen Körpers, wenn überhaupt Ausscheidungen, Präzipitate, Versinterungen oder Steinbildungen in den Nieren, der Harnblase, der Gallenblase u. a. entstehen. Der Name Tartarus rührt bekanntlich vom Weinstein (Cremor tartari), dem heutigen sauren Kalisalz der Rechtsweinsäure (Acidum tartaricum) her, das sich bei der Gärung des Traubensaftes absetzt. Davon das Bild. Wenn wir die Quecksilberverbindungen des Paracelsus nannten — gewiß waren einige bereits in seinen Tagen bekannt — so ist die Einführung derselben in die damalige Syphilistherapie eine der genialsten und wertvollsten Leistungen unseres Arztes. Damit tritt er als erster Forscher von bleibender Bedeutung jener damals wahrscheinlich sehr verheerend wütenden Infektionskrankheit entgegen. Machte sie sich doch in diesen Tagen überhaupt zum erstenmal in Europa als eine neue Seuche bemerkbar, denn nach jüngsten Forschungen lassen sich für ein Vorkommen der Syphilis im Bereich der alten Welt während der Antike und des ganzen Mittelalters keinerlei Belege beibringen. Nicht ein einziger Literat des Altertums oder des Mittelalters erwähnt die Lues. Auch hat man zu keiner Zeit einen syphilitischen Knochen aus diesen Zeiträumen gefunden. Das erste Auftreten der Syphilis als Epidemie knüpft sich an den Feldzug Karls des VIII. von Frankreich nach Italien in den
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und Suggestion waren ihm bekannt. Als Chirurg hat Paracelsus in den Tagen seiner Wanderzeit — gewiß auch in venezianischen, niederländischen und dänischen Feldzügen — als Kriegschirurg praktisch gearbeitet und auch noch in späterer Epoche davon gesprochen. Immer betonte er aber, daß alle gewandte Handkunst nichts ist, ohne genaues und intimes Studium der Natur. Der „Natur Arzt und Weise“ — das ist der Sinn der Chirurgie, d. h. sie nicht verpfuschen, denn die „erste und größte Geschicklichkeit des Arztes ist, die Geschicklichkeit der Natur nicht zu verderben“.

Und das ist für Paracelsus alles nur denkbar, wenn auch die ethischen Begabungen des Arztes eine starke Persönlichkeit


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Jahren 1494 und 1495. Darum der Name „französische Krankheit“. Morbus gallicus oder überhaupt „die Franzosen“. Und zwar ist ihr eigentlicher Ursprung Zentralamerika bzw. Haiti, von wo aus sie durch die Mannschaft des Kolumbus nach Spanien verschleppt wurde. Einwandfreie Berichte aus jener Zeit, wie die des Arztes Diaz de Isla, des Bischofs Las Casas, des Schriftstellers Oviedo, des Ethnographen Roman Pane, des Priesters Bernardino de Sahagun, des Leibmedikus Hernandez u. a. haben die Annahme eines amerikanischen Ursprungs der Syphilis ebenfalls sehr wahrscheinlich gemacht. Darum nannte man diese Krankheit auch westindische oder haïtanische Krankheit, lues americana, morbus hispanicus u. a. m. Der italienische Arzt Fracastoro (1520) nannte sie Syphilis, indem er diesen Namen nach dem mythischen Hirten Syphilus bildete und in sein berühmtes Gedicht (Syphilis sive Morbus Gallicus) einführte. Die Bezeichnung lues venerea (Lustseuche, venerische Krankheit) wurde von dem französischen Arzt Béthencourt im Jahre 1527 angeregt. Paracelsus sagt u. a. gern „Geschlechtspest“. Aber wie dem auch sei, Paracelsus hält es für ein wesentliches Stück seiner Berufsaufgabe, diesen dämonischen Gast, der so erschreckend und verheerend auch in Deutschland eingebrochen war, unschädlich zu machen. Seine Spezialstudien über diese Krankheit legte er in Monographien — wohl die ersten wissenschaftlichen über dieses Gebiet — nieder, z. B. in den Schriften: „Vom Holz Guajac“, „Drei Bücher von der französischen Krankheit (Imposturen)“, „Acht Bücher von Ursprung und Herkommen der Franzosen“, „Spitalbuch“. — Paracelsus rezeptierte als erster wirklich chemisch. Ein innerer Arzt — meinte er — wohnt in uns, der die Nahrung in bezug auf Brauchbares und Unbrauchbares scheidet und umsetzt, es ist der „Meisteralchemist“ des Magens. Die Heilmittel des Paracelsus sind modern. Präparate von Arsen, Quecksilber, Antimon, Blei, Eisen, Zink, Kupfer sind beliebte Heilmittel in seinem Arzneischatz, ja das Zink ist sogar von ihm genau beschrieben worden. Auch Schwefelsäure, Opium u. a. verwendet er.
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vermitteln und uns jenen feinen sittlichen Scharfblick und Seelentakt fühlbar machen, die in aller ärztlicher Arbeit liegen müssen. Darum hat er in den Paramirumbüchern gesagt: „Wenn ein Arzt auf dem richtigen Grund stehen soll, so muß das Senfkorn der frommen Güte in der Wiege in ihn gelegt werden, und er muß in dieser Kraft aufwachsen wie die Großen und Heiligen bei Gott.“ Darum auch seine harte Kritik an den zeitgenössischen Arzten einer auf Galenos und Avicenna beruhenden, philologisch- scholastisch betriebenen Medizin, die nichts anderes machen, „als töten, sterben, würgen, erkrümmen, erlahmen und verderben“, darum seine Absicht, der „Wahrheit auf anderen Wegen nachzugehen“. Er wollte die heranwachsenden und zukünftigen Ärzte ermahnen, „daß sie geschickter ihre Sache angreifen als ihre praeceptores und selbst aus ihrem Fleiß und Urteil die Sache bedenken und daß sie sich seiner Arzneikunst erinnern sollen, die „allein, neu und deutsch“ sei. Sie wollte nichts anderes als der Natur „Eigenschaft, Wesen und Art“ nachzufolgen. Gottes Geist erleuchtet den wahren Arzt, denn Gottes Geist ist das „Licht der Natur“. Dieses macht sichtbar, was Sonne und Mond nicht sichtbar machen, und wer nie in seiner Helligkeit gewandelt ist, dem bleibt das köstlichste Wirken des Arztes zeitlebens versagt. „Dem die Gabe gegeben wird, des ist sie: der nicht berufen wird, den habe ich nicht zu berufen.“ Der Ärztestand, sagt Paracelsus im Buch Paragranum, ist vor Gott die höchste Fakultät. „So nun der Arzt von Gott dermaßen fürgenommen und gesetzt ist, so muß er endlich kein Larvenmann sein, kein altes Weib, kein Henker, kein Lügner, kein Leichtfertiger, sondern ein wahrhaftiger Mann muß er sein.

Paracelsus wird als Naturforscher und Arzt, als Naturphilosoph und Theologe für die Geheimgeschichte spiritistischer und okkultistischer Kreise, sowie für jene nicht kleine Anhängerschaft, die ihn allzugern als theatralisch aufgeputzten Faust oder irgend einen interessanten Abenteurer auslegt, endgültig verloren sein. Schon Friedrich Mook hat den Boden des alten Standortes stark gelockert und so auch den Wust von groben Fälschungen — ich erinnere an Herrmann Conring, Athanasius Kircher und Bernhard Dessenius von Kronenberg — zu entkräften und widerlegen versucht. Aber erst Karl Sudhoffs kritische Forschungen

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bilden den Kernpunkt aller künftigen Paracelsusarbeiten, und an sie habe ich seinerzeit auch angeschlossen. Den „Theologen“ Paracelsus galt es an der Hand des noch ungedruckten Materials von neuem zu entdecken und seine außerkirchliche Position mußte vorerst wenigstens in den Grundlinien festgehalten werden. Meiner Meinung nach berührt er sich als religiöse Persönlichkeit in vielem mit Sebastian Franck: die ungeheure Verinnerlichung des ethisch-religiösen Prozesses und die geradezu anachoretische Form seiner Stellung gegen jede christliche Konfession, schienen mir dafür zu sprechen. In beiden flammte der große Wunsch, allen Menschen — denn in allen ist ja das „Licht der Natur“ wirksam — zu künden, was ihre sittliche Selbstgewißheit wert ist, ihre ethische Freiheit und das Vollbewußtsein dieser Gottesgeschenke. Aus diesem Geiste heraus fand der große Naturforscher die Worte: „So soll aber der, dem Gott reiche Gaben gegeben hat, keines Andern sein, sondern sein eigener Herr, sein eigener Wille und sein eigenes Herz.“ Das „Licht der Natur“ bricht aus Gott und wohnt wie ein göttlicher Abglanz, als sittliche Entscheidungsquelle in uns und als eigentlicher Lehrmeister: „darum muß der Arzt aus der Natur wachsen.“ Aus den „Kräften Gottes“ heraus werden alle Besonderheiten und Rätsel der Natur erschlossen, alles Verborgene und Wunderbare, alle Erfüllungen des Lebens und aller „wahren Arznei Grund“. Eben darum suche man den „wahrhaftigen Glauben nicht im religiösen Zunftbewußtsein oder im Aberglauben, sondern im wahrhaftigen Grund, in Gott. Und in dieser Religion vermag man dann alles, nichts wird denen, die mit ihr alles tun, widerstehen: gleichsam Ströme und Berge vermag man zu beherrschen!“ Freilich ist das Leben bunt und wechselvoll und es gibt so viele Dinge, die auf uns bestimmend eingreifen. „Gott gab die Zeit des Werdens hier, wo die Natur in uns und um uns ist, auf daß wir wachsen ins Ewige hinein und viel Dinge geschehen, bevor es zur Reife und Frucht kommt, am ersten die Sprößlinge und Schößlinge, darnach die Blüten und endlich die Früchte. Und diese alle haben viele, viele Lebenszufälle und -Schicksale, viel Feindschaft um sich, bevor sie in die Ernte, in die Hülsen kommen.“ Denn was ist der Tod? Er ist das Ende unseres Tagwerkes, eine „Hinnehmung“ unseres Lebensgeistes, eine Ab-

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löschung des natürlichen Lichtes und eine große, gewaltige Trennung der drei Substanzen Leib, Seele und Geist. „Die Ernte ist die Abendstunde, der keiner entrinnen mag“, eine Heimkehr zur Mutter Erde und zur flutenden Welt, bis auch wir vollendet sein werden und dann Ruhe finden in Gottes unendlichem Herz. Der wirkliche Arzt, der Gottes- und Lebensdienst treibt, weiß ganz genau, daß die ganze Heilkunde und ihre Vertreter nichts seien, „als eine gegebene Barmherzigkeit den Dürftigen aus Gott; und darum auch das Notwendigste ist, zu traktieren die Barmherzigkeit, denn sie ist das Werk der Liebe.“

Sechsunddreißig Jahre nachdem Paracelsus gestorben war, wurde in Brüssel ein Mann geboren, in dessen Werk sich so viel von dem großen Humanisten und Naturforscher stimmungsschwer niedergeschlagen hat: Johann Baptist van Helmont 1).....

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß Sebastian Franck mit Worten der Verwunderung von Paracelsus redet. Hat der ernste Universalhistoriker und kirchenabgewandte Pessimist ihn persönlich gekannt? Wir wissen es nicht. Quellenmäßig erwiesen aber ist, daß Paracelsus mit Froben, Erasmus, Hieronymus Boner und Conrad Wickram in Verkehr gestanden hat. Mit den Baseler Humanisten Bonifacius und Basilius Amerbach verband ihn durch einige Zeit treue Freundschaft. In der Hochhaltung der deutschen Sprache schloß er sich seinem Kollegen Laurentius Frieß an. Aber auch ein Mann gehört hierher, der als Künder des kopernikanischen Weltbildes von Bedeutung wurde: Georg Joachim Rheticus 2)! Als Arzt war er ein überzeugter Anhänger von Paracelsus.

Soweit in ein paar Strichen eine Skizze seiner Persönlichkeit. Vieles, das an ihm wesentlich ist, konnte nur angedeutet werden: seine reiche Theologie und ärztliche Ethik. Freilich, andererseits scheint mancher Zug, wie überhaupt die religiöse Organisation dieses Menschen, stellenweise noch ungeklärt und geschichtlich verschwommen. Wie er dem Naturgeschehen und den Ordnungen und Schickungen hellste Sinnfälligkeit verlieh, wie er es individualisierte, d. h. zu einer einzigen lebendigen Einheit erhob und


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1) Vgl. mein Buch: Joh. Baptist van Helmont (1577—1644). Leipzig und Wien 1907. Verlag Franz Deuticke.
2) Gest. am 4. Dezember 1576 zu Kaschau in Ungarn.
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das Individuelle im Ganzen und das Ganze im Individuellen sieht, wie er das Insichversenken der Vereinigung mit Gott gleichsetzt und mit einem heroischen Pathos von der königlichen Freiheit des Herzens sein Lebensmotto kündet: Alterius non sit, qui suus esse potest! — es wird bleibend den Kern des Paracelsusproblems ausmachen. Er hat wirklich die Natur und überhaupt die ganze Welt als lebendiges Ganze gefühlt, und die Dinge und ihre Abwandlung, das Bedeutende und Alltägliche Symbole des Einen, Masken des Weltgrundes genannt. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis! Auch die Trübsale und Enttäuschungen und der mühvolle Weg durch Menschen und die stillsten Provinzen ihrer Seele.

Auch das ist sicher, daß sein Leben — und es war das Leben eines schlichten Mannes und Armenfreundes, der nur Wanderarzt und Wanderprediger sein wollte — organisch verknüpft ist mit den das Selbstgefühl steigernden Werten der Renaissance, und daß die Begabung, die diese geistig erregte Zeit in Fülle ausschüttete, so überreich über ihn kam: die sonnige Naturfreude und energische Bejahung des Lebens, die anschauliche, ästhetische Auffassung der Natur 1), das Interesse am Menschen und an den Kräften seiner Seele, die Kritik und Verfeinerung aller Lebensfragen, die religiöse Gemütsvertiefung und ganz besonders auch die neue Sinnlichkeit der Vernunft. Aber trotz aller Wirklichkeitsliebe und allem Bekenntnis zur Welt der Naturgesetzlichkeit war gewiß in Paracelsus auch ein romantischer Zug. Ich meine hier allerdings Romantik im Sinne jener leidenschaftlichen, phantasievollen und seltsamen Weltanschauung, wie wir sie an Tieck, Novalis, Wackenroder, den Schlegels, Arnim, Brentano, Hölderlin, Eichendorff u. a. erlebten. Seine fessellose Weise Subjektives geltend zu machen, seine oft launenhafte Willkür, die Betonung des Gefühlsmässigen, der Hang zum ostentativ Formlosen und rein Natürlichen sind echt romantisch. Auch das erinnert an diese Weltordnung, wenn man immer und immer wieder bei Paracelsus — besonders in den ärztlich-ethischen und theologosierenden Kapiteln — liest, wie doch das Herz viel mehr


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1) Ein Zug, der so lebhaft an Goethe gemahnt, wie überhaupt Paracelsus auch eine ihm verwandte Verbindung von objektiver Naturerkenntnis und phantasiemäßiger Anschauung zeigt.
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zu ehren sei, als der Verstand und wie es ein Reich der Seele gibt, das unbegrenzte Möglichkeiten hat. Überhaupt diese seltsame Vereinigung von Phantasie und feinstem Denken erinnert stark an die persönlichsten Hervorbringungen der deutschen Romantik und auch ihre sekundären Merkmale beweisen das: der mystische und symbolische Zug, die Alleinheitslehre und die leisen Hinweise auf das Unbewußte. Freilich, glaube ich, fehlt Paracelsus doch wieder andererseits sehr viel, um ihn einen akuten Romantiker zu nennen, wenn ich nicht irre, vor allem die typische Entfremdung von der Wirklichkeit und der lebendigen Realität. Er war doch viel zu viel Naturforscher, um sich in die Welt des Grenzenlosen und der Stimmung zu verlieren.

Er war deutsch und unabhängig in seinem ganzen Wesen, innerlich frei wie alle echten Genies; fast alle Gaue Europas hat er als wandernder Mediziner und „Theologe“ durchquert, aber er blieb auch immer deutsch und unabhängig, auch in seinem Platonismus, in seiner stoischen Philosophie und christlichen Mystik. In Österreich, wo er einst zum Jüngling heranwuchs, beschloß er auch sein vielbewegtes und tatenreiches Leben.

Obwohl dieser Mann mit dem warmen Herzen und dem weltumspannenden Geist in seinen Tagen noch nichts von Ernte sah, hat er immer an eine Ernte geglaubt und sein freudiger, hoffnungsstarker Glaube liegt in dem Wort: „Vielleicht grünet, das jetzt herfür keimet mit der Zeit.“ Er, der mit stiller Ergriffenheit gesagt hat, der höchste Grund der Arznei ist die Liebe, jene schlichte, einfältige und verborgene Liebe, die „unduldsamer“ ist als aller Glaube und alles Recht, er war auch hierin ein Klassiker seiner Zeit und seines Berufes von der Stunde ab, als er seiner Arbeit das Motto gab, nicht aus Liebe dem Nächsten zu dienen, sondern immer mit Liebe. In diesem Gedanken liegt viel von dem Utopischen seiner Forderungen, aber auch die Tragik seines mißverstandenen Lebens, das so früh schon der Tod an die Hand genommen hat. Wir Heutigen beginnen erst wieder zu fühlen, daß der, der den Blicken der damaligen Zeit so still entschwand, auch wohl in unseren Tagen aufweckend reden könnte.

Bibliography

Strunz, Franz (1875–1953): Beiträge und Skizzen zur Geschichte der Naturwissenschaften, Hamburg/Leipzig: Leopold Voss, 1909, pp. 47-68.

First published:

Strunz, Franz: ‘Theophrastus Paracelsus’, in: Religion und Geisteskultur, 1 (1907), no. 4, pp. 322-337.
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